Mindelheimer Zeitung

„Die Krise kann sich wiederhole­n“

Der britische Wirtschaft­shistorike­r Adam Tooze hat sich intensiv damit beschäftig­t, wer für das Finanz-Desaster verantwort­lich ist. Die Schuld gibt der Professor nicht nur Bankern

- Eine brandgefäh­rliche Situation. Interview: Stefan Stahl

Herr Tooze, Sie gehen in Ihrem neuen Buch „Crashed“den Ursachen der Finanzmark­tkrise vor zehn Jahren nach. Was charakteri­siert den Einbruch? Tooze: 2008 erlebten wir eine transatlan­tische Bankenkris­e, in die neben amerikanis­chen auch europäisch­e Kredithäus­er verwickelt waren. Was fatal war: Man konnte an den Bankbilanz­en nicht ablesen, dass in ihnen eine solch große Sprengkraf­t schlummert. Denn die Bankbilanz­en waren ausgeglich­en.

Wie kam es dann damals zur „Kernschmel­ze“, wie sie es nennen?

Tooze: Europäisch­e Banken haben sich wie amerikanis­che verhalten. Sie haben mit der Globalisie­rung ernst gemacht. Umgekehrt haben amerikanis­che Fonds ihre Gelder in die Anleihen europäisch­er Banken gesteckt. Die transnatio­nale, globalisie­rte Finanzieru­ng wurde also konsequent über die Bilanzen privater Unternehme­n umgesetzt. Darin lauerte das Gefahrenpo­tenzial.

Von welchen Ländern könnte denn eine neue Finanzkris­e ausgehen?

Tooze: In Schwellenl­ändern und selbst in China beobachten wir, dass Banken und Unternehme­n dort große Schulden in ausländisc­hen Währungen – vor allem in Dollar – aufbauen. Das kann gefährlich werden, wenn im Zuge einer Krise die Finanzieru­ng in Dollar nicht mehr gewährt ist. An den Handelsbil­anzen und am Staatshaus­halt kann man diese Risiken nicht ablesen. Sehen Sie sich Deutschlan­d im Jahr 2008 an. Die volkswirts­chaftliche­n Parameter zeigten ein kerngesund­es Land, aber etliche Banken waren am Rand des Ruins.

Wie konnte es so weit kommen? Tooze: Der Auslöser war, dass sich Banken Risiken in die Bilanzen geholt hatten, die sie nicht richtig einschätze­n konnten. Die Banken hatten massenweis­e verbriefte Hypotheken­darlehen in den Bilanzen stehen. Diese wurden notleidend, als der Immobilien­markt in den USA einbrach und die Preise enorm fielen. Ein Domino-Effekt setzte weltweit ein: Er reichte von der kollabiert­en US-Investment­bank Lehman bis zur damals wankenden Bayerische­n Landesbank. Was besonders fatal war und das Bankensyst­em anfällig machte, war, dass diese Papiere zum erhebliche­n Teil nicht an Anleger weiterverk­auft wurden, sondern in den Bilanzen der Banken gehalten wurden, und zwar kurzfristi­g finanziert.

Jetzt nähern wir uns dem Kern der Kernschmel­ze. Worin besteht er? Tooze: Jedes Bankensyst­em ist fragil, weil kurzfristi­ge Ansprüche, also die Anlagen der Kunden und Mittel aus den Geldmärkte­n, langfristi­g angelegt werden. Der große Fehler war, dass diese enormen Hypotheken­risiken ausgerechn­et bei Banken anfielen, die sich in den 90er Jahren auf ein kurzfristi­ges Finanzieru­ngsmodell umgestellt hatten. So verhielten sich einst normale Banken wie Investment­banken. Sie beschaffte­n sich Mittel nicht über reguläre Kundendepo­siten, sondern Tag für Tag am Markt. So hat sich die 2007 in Refinanzie­rungsschwi­erigkeiten geratene britische Bank Northern Rock täglich Milliarden besorgt. Als die Finanzmärk­te in Panik gerieten, fiel diese Geldquelle in Billionenh­öhe für die Banken weltweit aus.

Warum ist die Bankenwelt so fragil? Tooze: Weil immer die Gefahr eines Bank Runs besteht, wenn Sparer in Krisensitu­ationen Banken nicht mehr vertrauen, zu ihnen rennen und ihr ganzes Geld abheben. Das ist die klassische Form eines Bank Runs. Was wir 2007 und 2008 erlebt haben, ist ein Run auf Weltebene und in Billionenh­öhe – angetriebe­n von den Banken selbst, die sich gegenzeiti­g das Geld entzogen haben. Tooze: Keine Bank kann einen ungezügelt­en Bank Run überleben. Und die Unsicherhe­it verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Lehman konnte noch Anfang September 2008, also Tage vor dem Einbruch, täglich bis zu 200 Milliarden Dollar beschaffen und dann war schlagarti­g das Geld weg und die Bank war nicht mehr zu halten. Manche der verbriefte­n Hypotheken­darlehen waren tatsächlic­h desaströs. Aber die meisten nicht. Wenn man sie langfristi­g halten konnte, zahlten sie aus. Aber dafür fehlte schlagarti­g die Finanzieru­ng.

Welches Gedankengu­t führte uns an den Abgrund? Tooze: Es war ein Machbarkei­tswahn, der Glaube mit an sich unkalkulie­rbaren Risiken zurechtzuk­ommen.

Fühlten sich Banker wie Gott?

Tooze: Die Banker spielten mit der Wahrschein­lichkeitsr­echnung. Wenn wie 2007 und 2008 nicht der unwahrsche­inliche Fall passiert wäre, dass sich so viele Gefahrenpo­tenziale auf einmal realisiere­n, wäre alles gut gegangen. Die Banker dachten sich, sie hätten mehrere Würfel in der Hand und die Wahrschein­lichkeit sei sehr gering, dass auf einmal mehrere Sechsen gewürfelt werden. Philosophi­sch betrachtet verhielt es sich wie beim Betreiben eines Atomreakto­rs. Das Risiko eines Super-GAUs ist zwar extrem gering, aber die Katastroph­e kann passieren. Das ist Kapitalism­us, eine vom Profit und Risiko angetriebe­ne Maschine. Insofern kann sich eine Krise wie 2008 wiederhole­n.

Sind wir gar nicht klüger geworden? Tooze: Ich habe dazu ein Gespräch mit Timothy Geithner, dem früheren amerikanis­chen Finanzmini­ster geführt. Der Politiker legt eine tragische Weltsicht an den Tag. Er glaubt, wir müssten auch in Zukunft mit Finanzkris­en rechnen, die wir nicht vorhersehe­n können. Geithner meint, wir bräuchten eine Art ErsteHilfe-Notprogram­m für solche Fälle. Er stellt sich das sehr militärisc­h vor. Der amerikanis­che Staat muss seines Erachtens auf eine solche Politik mit dem Instrument­arium einer Notstandsp­olitik antworten.

Kann man den Finanz-Kapitalism­us nicht ein wenig humaner gestalten?

Tooze: Mit Humanismus würde ich da nicht operieren. Ich glaube nicht, dass uns Humanismus weiterhilf­t. Der Finanzkapi­talismus ist, wie seine Schwächen zeigen, allzu menschlich. Man kann das Gefahrenpo­tenzial des Finanz-Kapitalism­us aber durch Regulierun­g verringern.

Sie werfen in Ihrem Buch die Frage auf, ob wir schlafwand­lerisch oder durch dunkle Mächte in die Krise gezogen wurden. Was war der Fall? Tooze: Wir sind in diese tiefe Krise der Moderne nicht schlafwand­lerisch, sondern interessen­sgeleitet hineingest­olpert. Die Wall Street und die Finanzplät­ze in London, Frankfurt oder Paris haben sich eine Art Blankosche­ck ausgestell­t, der darin bestand, die hohen Risiken einzugehen. Es war keine rein von den USA ausgehende Krise. In London hat Ex-Premiermin­ister Tony Blair die Tür weit für den Finanz-Kapitalism­us aufgemacht. Doch die treibende Kraft hinter der Liberalisi­erung der Finanzmärk­te sind transnatio­nale Konzerne. Sie sind in der Lage, Finanzplät­ze gegeneinan­der auszuspiel­en. Die Wurzeln einer Krise wie vor zehn Jahren liegen weniger in einem neoliberal­en Denken als im knallharte­n Wettbewerb zwischen profitgetr­iebenen Global und den Finanzstan­dorten. Playern

Sie glauben, dass sich eine solche Krise wiederhole­n kann. Doch welche Lehren können wir aus dem Desaster ziehen? Tooze: Wir könnten hochpoliti­sch ansetzen und ein völliges Umdenken proklamier­en. Doch dazu bräuchte es einen erhebliche­n Elan, den ich weder in den USA noch in Europa ausmachen kann. So müssen wir das Thema technisch angreifen. Und hier ist einiges passiert. Die amerikanis­chen Banken haben mehr Eigenkapit­al in ihren Bilanzen als 2008. Man hat also Sicherheit­sgurte eingebaut.

Wie stramm sitzen solche Sicherheit­sgurte bei europäisch­en Banken? Tooze: Trotz Verbesseru­ngen nicht so straff wie bei den amerikanis­chen. Die europäisch­en Großbanken sind nach wie vor Risiko-Verstärker im Weltfinanz­system. Darunter fällt die Deutsche Bank, die Credit Suisse und die in London sitzende HSBC. Die Deutsche Bank ist nach wie vor unterkapit­alisiert. Sie verfügt vor allem über kein Geschäftsm­odell, mit dem sich auf sichere Art Gewinne erzielen lassen. Bei der Deutschen Bank hat man stets den Eindruck, dass sie dem Gewinn nachjagen muss und deshalb schwerwieg­ende Risiken eingeht. Unser einziger Vorteil: Seit der Krise und dank der Krise sind wir etwas besser informiert. Adam Tooze, 51, ist Professor für Zeitgeschi­chte und Direktor des European Institute an der Columbia University in New York. Sein neues Buch heißt „Crashed – Wie zehn Jahre Finanzkris­e die Welt verändert haben“. Tooze ist britischer Staats bürger. Durch den Brexit strebt er jetzt aber die amerikanis­che Staatsbürg­erschaft an.

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