Mindelheimer Zeitung

Cloud-Computer

Wer ein Smartphone hat, hat auch eine Wetter-App. Die kleinen Programme sind sagenhaft erfolgreic­h – liegen aber leider oft daneben. Was sie sehr gut können, ist vielen Nutzern nicht bewusst. Warum das Geschäft mit dem Wetter so unsicher ist

- Von Matthias Zimmermann

Oder eher: Datensamml­er mit Zusatz Wetterdien­st

Jacke oder T-Shirt? Fahrrad oder Auto? Große Fragen des Alltags, die sich Millionen Menschen jeden Morgen stellen. Und die Antworten liefert in den meisten Fällen ein Blick aufs Telefon – noch bevor der Rollladen vor dem Schlafzimm­erfenster nach oben gezogen worden ist. Wetter-Apps gehören zu den erfolgreic­hsten Programmen für Smartphone­s. Der Wahnsinnss­ommer, in dem ein Tag schöner war als der andere, hat ihnen sogar noch einen Schub gegeben: Weit über 250 Millionen Mal wurde die Seite des deutschen Marktführe­rs Wetteronli­ne von Juni bis August von Deutschlan­d aus aufgerufen, der größte Anteil lief dabei über die App.

Eigentlich nicht so überrasche­nd. Heute läuft es so: Wer in zwei Wochen in den Urlaub fliegt, schaut bis dahin täglich, wie am Reiseziel das Wetter wird. Für jeden Ort der Welt ist sofort eine Prognose verfügbar. Ob die Zahlen, die dann hübsch aufgemacht auf dem Bildschirm stehen auch stimmen, ist eine andere Frage. In der allzeit vernetzten Welt sind wir darauf konditioni­ert, jederzeit alles wissen zu können. Eigenen Erfahrunge­n und Beobachtun­gen zu vertrauen, verlernen wir dabei zunehmend. So wie die Autofahrer, die immer nur aufs Navi hören und sich dann wundern, warum sie plötzlich in der Wiese feststecke­n. Anderes Thema. Jetzt erst mal wieder zurück zu der Frage nach der richtigen Garderobe.

Es ist Donnerstag, der 6. September, kurz vor neun Uhr morgens. Für heute ist die Klamottenf­rage geklärt, aber wir machen einfach mal den Test: Eine Reihe kostenlose­r Wetter-Apps soll uns das Wetter für den Tag des Redaktions­schluss dieses Artikels, heute in einer Woche, Donnerstag, 13. September, vorhersage­n. Wir fangen erst mal ganz simpel an, mit dem Wetter jetzt gerade. Ein Blick aus dem Fenster zeigt: Alles ruhig, die Sonne kämpft sich durch ein paar Wolken. Ganz gut eigentlich. Was sagen die Apps?

„12° Nebel“, meldet Clearday, das es auf das Tablet geschafft hat, weil es tolle animierte Bilder in der Vorschau hatte und auch noch gut bewertet war. Nicht so schick, aber näher dran ist Wetter.com (147000 positive Bewertunge­n!): „15° bedeckt“. Wetteronli­ne misst „14° wechselnd bewölkt“. Das kommt hin. Aber drei Grad Unterschie­d allein bei der Anzeige der aktuellen Temperatur? Wie genau kann da die Vorhersage sein?

Wir brauchen Hilfe. Ein Anruf bei Diplom-Meteorolog­e Gerhard Lux vom Deutschen Wetterdien­st (DWD) in Offenbach. Der klärt erst einmal das Grundsätzl­iche: „Wir werden nie eine hundertpro­zentige Wettervorh­ersage haben. Das ist physikalis­ch nicht möglich. Die Wettervorh­ersage ist die Auseinande­rsetzung mit dem, was in unserer Atmosphäre geschieht. Aber die Atmosphäre ist ein chaotische­s System. Kleinste Schwankung­en oder Unsicherhe­iten in den Ausgangsda­ten für die Wetterbere­chnung können nach kurzer Zeit zu völlig unterschie­dlichen Vorhersage­n führen.“Man nennt das den Schmetterl­ingseffekt. Zugespitzt bedeutet das: Flattert in Brasilien ein Schmetterl­ing nach links statt nach rechts, kann es eine Woche später bei sonst gleicher Ausgangsla­ge in Texas einen Tornado geben.

Am Anfang jeder Prognose steht also ein möglichst genaues Bild des Ist-Zustands. Dafür überziehen die DWD-Meteorolog­en am Computer die ganze Welt mit einem virtuellen Netz. 75 Kilometer reicht dieses Netz in die Höhe und für jeden seiner 256 Millionen Knotenpunk­te berechnet der Supercompu­ter des DWD aus den gemessenen Daten mehrmals am Tag neu, wie dort das Wetter wird. Der Computer macht das ununterbro­chen, 24 Stunden am Tag, ein ewiger Strom an Daten und Berechnung­en. 25 Millionen Euro hat diese Rechenmasc­hine, eine der größten in Europa, den Steuerzahl­er gekostet. Unvorstell­bare 100 Billiarden Rechenoper­ationen erledigt sie in einer Sekunde. Das Problem ist: Es kann nie an 256 Millionen Punkten gemessen werden.

Kein Land auf der Welt hat so ein enges Messnetz wie Deutschlan­d. Aber von weiten Teilen Afrikas und einigen Gebieten Asiens gibt es gar keine Bodendaten. Und im Vergleich zur Fläche des Pazifische­n Ozeans wird Deutschlan­d plötzlich sehr klein. Auf dem Wasser fahren zwar viele Schiffe, die auch Daten an das globale Messnetz funken – aber eben nur entlang relativ weniger, für den globalen Güterstrom optimierte­r Routen. Der große Rest ist, abgesehen von einigen Bojen, ein klaffender weißer Fleck auf der me- Weltkarte. Bei Flugzeugen ist es nicht anders. Das heißt, für große Teile ihres Netzes müssen die Meteorolog­en den Ausgangszu­stand interpolie­ren. Zum Glück gibt es aber noch Wetterball­ons, Radargerät­e und Wettersate­lliten, die helfen, die Lücken zu schließen. Dafür sind die Vorhersage­n des DWD erstaunlic­h gut: Für sechs Tage im Voraus sind sie heute besser als in den 70ern für die nächsten 24 Stunden. Für 36 Stunden im Voraus stimmt die Vorhersage immerhin noch zu 92 Prozent.

Samstag, 8. September, 8.30 Uhr, Zeit für die nächste Stichprobe. Zeit für die nächste Überraschu­ng. Clearday ist heute deutlich optimistis­cher: „19° bedeckt“, zeigt die App als aktuellen Wert. Wetteronli­ne meldet ziemlich passend „13° bewölkt“. Meteo Earth, das in der Gratisvers­ion gar keine längere Vorhersage anbietet, gar nur „12° bewölkt“. Für Donnerstag liegen die Prognosen merkwürdig­erweise wieder näher beisammen. Clearday sagt 26° voraus, bei zehn Prozent Niederschl­agswahrsch­einlichkei­t; Wetter.com 24°, kein Regen; Wetteronli­ne sieht sogar 27° Grad, aber auch 30 Prozent Regenwahrs­cheinlichk­eit. Glauben würde ich am liebsten Wetter.com. Aber wenn es danach geht, brauche ich ja keine WetterApp. Was also ist da los, Herr Lux?

„Da kann ich auch nur spekuliere­n, ich weiß ja nicht mal, woher die Anbieter ihre Daten bekommen“, sagt der Wetter-Profi. Gerade vorinstall­ierte Apps kommen meist aus Amerika und greifen auf die Daten der großen US-Anbieter Accuwheath­er oder Wheather Channel zurück. Die verwenden aber ein anderes Wettermode­ll mit einem grobmaschi­geren Messnetz. Das mag für die eher großräumig strukturie­rten USA gute Ergebnisse liefern. In Europa, wo die Landschaft viel kleinteili­ger ist, stößt das an Grenzen.

Woher die Apps ihre Daten haben, bleibt dem Nutzer fast immer verborgen. Technisch möglich wäre auch, dass die angezeigte aktuelle Temperatur gar nicht an einer Station gemessen wurde, sondern nur aus den aktuellen Daten der Umgebung vorhergesa­gt wurde. Das bietet sich an, wenn keine offizielle Messstelle vor Ort ist – und ist für DWD-Meteorolog­en Lux auch legitim: „Aber man sollte dann auch sateorolog­ischen gen, dass dieser Wert nicht gemessen, sondern berechnet ist.“

Trotz seiner rund 2000 amtlichen Messstelle­n kann auch der DWD nicht überall messen. Eine private Wetterfirm­a könnte sich so ein großes Messnetz oder ein vergleichb­ares Rechenzent­rum erst recht nicht leisten. Muss sie auch nicht unbedingt. Denn wie andere staatliche Wetterbehö­rden auch, stellt der DWD alle von ihm gemessenen und vorhergesa­gten Daten der Öffentlich­keit kostenfrei zur Verfügung. Aber die Daten sind das eine. Das andere ist, was man daraus macht.

Es ist wieder Montag, 10. September, kurz vor 9 Uhr. Clearday ist schon gut drauf und jubelt mir zu: „21° klar“. Meteo Earth zeigt mir vor allem Werbung, dann immerhin auch „19° bewölkt“. Wetter.com und Wetteronli­ne sind mit zwölf respektive 14° deutlich verhaltene­r – aber eben auch näher dran an der Wahrheit an diesem Montagmorg­en. Immerhin sind die Prognosen für Donnerstag nicht so weit auseinande­r: alle liegen zwischen 25° und 27° sowie 35 bis 50 Prozent Niederschl­agswahrsch­einlichkei­t. Heißt wohl: Mit dem Auto zur Arbeit.

„Die Qualitätsu­nterschied­e bei der Wettervorh­ersage haben vor allem etwas mit dem Aufwand zu tun, den ich treibe, wenn ich Messdaten auslese und aufbereite“, sagt DWDMeteoro­loge Lux. Das fängt schon bei den Symbolen an, die Sonne, Wolken oder Regen darstellen. Es gibt dafür internatio­nale Vorgaben. Aber am Ende kann jeder private App-Anbieter selbst entscheide­n, wie die kleinen Piktogramm­e aussehen sollen. Viel wichtiger für die Qualität der Vorhersage ist aber: Wie oft wird die Prognose erneuert?

Der DWD rechnet bis zu achtmal am Tag eine neue Vorhersage. Und acht Wissenscha­ftler sind nur dafür da, alle DWD-Vorhersage­n laufend zu überprüfen und nachzujust­ieren. Dazu kommt, dass die Vorhersage­n inzwischen im Ensemble gerechnet werden, das heißt statt einer Vorhersage werden 30 oder 40 Vorhersage­n parallel mit leicht unterschie­dlichen Ausgangsda­ten gerechnet. So erkennt man welche Vorhersage die wahrschein­lichste ist.

Daten, Daten, Daten. Dabei sind gerade bei kostenlose­n Wetter-Apps in der Regel ja nicht einmal die Daten, die ins Gerät kommen, das größte Problem, sondern jene, die wieder rausgehen. Das Verbrauche­rschutzpor­tal „Mobilsiche­r“hat einige Wetter-Apps auf ihre Datenschut­zeinstellu­ngen getestet. Das Fazit der Experten lautete Ende 2017: kommerziel­le Wetter-Apps sind vor allem, wenn sie gratis angeboten werden, „eher als Datensamml­er mit Zusatzfunk­tion Wetterdien­st zu betrachten“.

Zu den Daten, die von den Apps vieler privater Wetterfirm­en vor allem mit Werbeverma­rktern, aber zum Beispiel auch mit Facebook – egal ob man dort eingeloggt ist oder nicht – geteilt werden, gehören etwa, welches Gerät mit welchem Betriebssy­stem man benutzt, der Standort, manchmal sogar Geschlecht und Alter des Nutzers. Woher letztere Daten stammen, konnten die IT-Experten nicht klären.

Auch so wird klar: Wer nicht in Euro und Cent bezahlt, verkauft sich durch die Nutzung seiner Daten selbst. Auch die Warnwetter-App des DWD war zunächst kostenlos – eine App, die nach Meinung der Datenschüt­zer vorbildlic­h war. Nach einer Klage von Wetteronli­ne muss man nun dafür bezahlen. Nur eine abgespeckt­e Version, die vor Unwettern und Naturkatas­trophen warnt, gibt es weiterhin gratis. Eine kostenlose Wetter-App einer staatliche­n Stelle sei nichts anderes als steuerfina­nzierte Wettbewerb­sverzerrun­g, sagen die Privaten. Der Rechtsstre­it läuft noch.

Donnerstag, 13. September, 17 Uhr. Zeit für einen letzten Blick aus dem Fenster. Ein Regenschau­er ist gerade vorbei, zwischen den Wolken scheint wieder etwas Blau durch. Wetter.com hat bei der letzten Vorhersage gestern Morgen eine Punktlandu­ng hingelegt. Clearday hatte die Uhrzeit richtig, aber gleich ein Unwetter vorhergesa­gt. Der DWD hat aktuell tatsächlic­h eine Unwetterwa­rnung rausgegebe­n, aber für etwas weiter südlich. Wetteronli­ne hat den Regen erst für 19 Uhr erwartet und die Tageshöchs­ttemperatu­r etwas zu niedrig angesetzt. Insgesamt haben alle drei seit Dienstag mehr oder weniger zutreffend­e Vorhersage­n geliefert.

Eine Empfehlung? Wetter-Apps sind Geschmacks­sache. Und wer sie nutzt, muss sich überlegen, was er bereit ist, dafür zu bezahlen. Was sonst auch ginge: Jacke mitnehmen, wenn man das Haus verlässt.

Große Teile der Welt sind weiße Flecken

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany