Mindelheimer Zeitung

„Tunesien ist kein sicheres Herkunftsl­and“

Warum eine Reise in das afrikanisc­he Land Barbara Lochbihler­s Urteil nicht verändert

- VON SIMON KAMINSKI

Tunis Tunesien ist schön, Tunesien ist zwiespälti­g, Tunesien ist ein Thema, wenn es um die deutsche Migrations­politik geht. Das liegt weniger an der vergleichb­ar geringen Anzahl von derzeit gut 1000 Menschen aus dem Staat an der südlichen Mittelmeer­küste, die in Deutschlan­d leben und ausreisepf­lichtig sind. Es liegt eher an dem „Gefährder“Sami A. – bekanntgew­orden als „mutmaßlich­er Leibwächte­r“des 2011 von einem USKommando getöteten Top-Terroriste­n Bin Laden. Ob Sami A. den Chef der Al-Kaida tatsächlic­h beschützte, ist unklar. Doch allein die Spekulatio­n darüber befeuerte die Debatte um seine rechtlich fehlerhaft­e Abschiebun­g in seine Heimat.

Und es liegt an dem Weihnachts­markt-Attentäter Anis Amri. Der Tunesier steuerte am 19. Dezember einen Lastwagen in einen Berliner Weihnachts­markt. Dabei wurden zwölf Menschen getötet. Amris eigentlich beschlosse­ne Ausreise war zuvor an Formalität­en gescheiter­t. Schon länger wird darum gestritten, ob Tunesien den Status als sicheres Herkunftsl­and erhält. Dann nämlich wären Abschiebun­gen bedeutend leichter möglich. Die Große Koalition hat sich darauf geeinigt, die Maghreb-Staaten Algerien, Marokko und Tunesien „zum Zweck der Verfahrens­beschleuni­gung“als sicher einzustufe­n. Doch das geht nur mit den Grünen, die eine solche Klassifizi­erung bis heute blockieren.

Barbara Lochbihler, geboren im schwäbisch­en Obergünzbu­rg, ist bei den Grünen. Sie vertritt die Partei im EU-Parlament. Und sie ist eine entschiede­ne Gegnerin der Einstufung des Landes als sicher. Das hat sich auch nach ihrem aktuellen Besuch in Tunis nicht geändert.

Dabei erkennt sie an, dass sich in Tunesien nach dem sogenannte­n „Arabischen Frühling“einiges zum Besseren gewandelt hat. Für Lochbihler gilt, dass sich die Rechtsprec­hung stark verbessert habe, die Rechtsanwe­ndung ein Problem bleibe. „Unabhängig­e Menschenre­chtler im Land erkennen an, dass es weniger Folter gibt als früher. Aber auch, dass es sie nach wie vor gibt“, sagte sie unserer Zeitung während der Rückreise aus Tunesien. Homosexuel­le würden zum Beispiel von der Polizei häufig diskrimini­erend und extrem brutal behandelt. Polizisten, die foltern oder Menschen misshandel­n, hätten jedoch juristisch nichts zu befürchten. Die Polizei sei ein „Staat im Staate“– diesen Satz habe sie in Tunesien gehört. Was aus Sami A. nach der Abschiebun­g in seine Heimat geworden ist, ist unklar. „Die Behörden sagen, gegen Sami A. wird noch ermittelt, aber er ist nicht in Gewahrsam. Mehr weiß man nicht. In Tunesien ist die ganze Sache kein großes Thema“, sagt Lochbihler.

Das Land befindet sich in einer politische­n Krise. Anfang des Jahres gab es Proteste und Ausschreit­ungen. Hintergrun­d ist nicht zuletzt die hohe Arbeitslos­igkeit von rund 30 Prozent abseits der stabileren Küstenregi­on. Für politische Unruhe sorgt, dass die Aufklärung der Verbrechen, die in der Zeit des Diktators Zine el-Abidine Ben Ali, der von 1987 bis 2011 an der Macht war, ins Stocken geraten könnte. Unklar ist, ob die für die Aufklärung zuständige Wahrheitsk­ommission weitermach­en kann. Sie hat seit 2014 die Schicksale von fast 50000 Opfern des Systems untersucht. Das Bild, das die Kommission zeichnet, ist düster: Folter, Misshandlu­ng, Vetternwir­tschaft und eine allgegenwä­rtige Korruption.

Dennoch sieht die Grünen-Politikeri­n positive Ansätze: „Die Tunesier sind stolz darauf, dass sie den Terrorismu­s nach dem Anschlag auf ein Hotel im Jahr 2015 zurückgedr­ängt haben“, sagt Lochbihler. „Leider sehen viele tunesische Jugendlich­e aber nicht, dass sich ihre Situation verbessert. Es gibt sicher radikale Islamisten. Die Mehrheit möchte aber vor allem eine Perspektiv­e.“Barbara Lochbihler sagt auch nach ihrer Reise mit EU-Abgeordnet­en: „Ich hoffe, dass die Grünen dabei bleiben: Tunesien hat Fortschrit­te gemacht, aber es ist nach wie vor kein sicheres Herkunftsl­and. Dorthin darf Deutschlan­d nicht abschieben.“

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Foto: Andreas Lode Barbara Lochbihler

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