Mindelheimer Zeitung

Die Rache der Abgehängte­n

Der Schriftste­ller Lukas Rietzschel ist erst 24 und kennt doch die Stimmung, die zu Ereignisse­n wie jetzt in Chemnitz führt. Davon handelt sein Roman-Erstling

- VON ROLAND MISCHKE

Die Wut, diese maßlose Wut. Wegen dieser Wut trägt der RomanErstl­ing von Lukas Rietzschel den Titel „Mit der Faust in die Welt schlagen“. 2017 hat er den Roman geschriebe­n. Nach Chemnitz 2018 wissen wir, wie einer, der fünf Jahre nach der Wende geboren ist, zu seinem Thema kam. Es braut sich im deutschen Osten eine Stimmung zusammen, die den Frieden im ganzen Land bedroht. Dieser Jünglingsa­utor, der mit seinen gerade mal 24 Jahren noch kindliche Züge im Gesicht trägt, hat das früh erfasst.

In dem Buch wachsen die Brüder Philipp und Tobias in einer abgelegene­n Region in Sachsen auf. Ihre Kindheit verbrachte­n sie im Plattenbau, nun haben die Eltern ein Haus gebaut. Doch unweit davon ragen marode Fabriken empor, die Tagebausee­n sind unheimlich, „mal schimmert etwas hindurch, knapp unter der Oberfläche“, vielleicht sind es die „Schatten versenkter Geheimniss­e und schlechten Gewissens“. Die Bewohner im Heimatort haben immerzu schlechte Laune, und als hier Flüchtling­e aufgenom- werden sollen, kommt es zur Eskalation.

Die Eltern und Großeltern kommen darüber nicht hinweg, dass die schlichten Strukturen des Sozialismu­s nicht mehr gelten. Sie sind unzufriede­n mit der Freiheit, können mit ihr nichts anfangen. Philipp und Tobias haben ältere Freunde. Die parken ihre Autos vor dem Eingangsto­r der Schule und jubeln, als auf dem Schulhof ein Hakenkreuz entdeckt wird. Anführer der Gruppe ist Menzel, der von einem starken Deutschlan­d schwärmt. Die Brüder sind dabei, als das Haus einer arabischen Familie mit Schweinefl­eisch beworfen wird.

Warum stehen in Sachsen die Menschen in großer Zahl auf den hübsch renovierte­n Marktplätz­en ihrer Städte und beschimpfe­n Politiker? Warum hat das Bundesland mehr Rechtsradi­kale als andere, bis hin zu Neonazis? Und warum haben Pegida, AfD und ähnliche fremdenfei­ndliche Bewegungen dort ihre Basis?

Lukas Rietzschel, der in Kassel Politikwis­senschaft studierte, weiß es. Seine Eltern erlebten die Unsicherhe­it, als in den frühen neunziger Jahren die DDR abgewickel­t wurde. Die Familie lebte in der Oberlausit­z, heute wohnt Rietzschel in Görlitz. Er hat zwei Antworten auf den geballten Unmut im deutschen Osten: Erstens hält der Kapitalism­us nicht das, was er verspricht. Zweitens ist auf dem Gebiet der Ex-DDR noch ein Gedankengu­t lebendig, das grundsätzl­ich antistaatl­ich ist. Das hat mit der verdrängte­n Nazivergan­genheit zu tun. Laut Rietzschel gab es in der DDR nur eine „antifaschi­stische Oberfläche“, wie er in einem Interview sagte. Darunter brodelt es.

Im Buch grenzt sich Philipp von seinen rechtslast­igen Kumpanen ab, auch mit der Familie hat er, nachdem er einen Ausbildung­splatz ergatterte, nicht mehr viel zu tun. Tobias dagegen demonstrie­rt mit Pegida und radikalisi­ert sich, als seine alte Grundschul­e in ein Flüchtling­sheim umgewandel­t wird. Als die Familie die Laube, Lieblingso­rt seiner Kindheit, an einen Ausländer vermen kauft, wendet er sich ganz von ihr ab. Er ist dabei, als die alte Schule in Brand gesetzt wird. Da haben sich die Wege der beiden Brüder längst getrennt.

Lukas Rietzschel kennt solche Lebensläuf­e. Er hat sich selbst mit dem eigenen Bruder auseinande­rsetzen müssen und mit seinem im Arbeitermi­lieu verankerte­n Vater. Er hat den Roman geschriebe­n aufgrund seiner Erfahrunge­n und Gespräche. Es ist das Unaufgearb­eitete in der ostdeutsch­en Geschichte, die Rasanz der Marktwirts­chaft, das Abgehängts­ein der Dörfer und kleinen Städte, die er beschreibt. Zugleich sieht er in den Sympathien für den rechten Rand auch einen Jugendprot­est. Sie verhalten sich rebellisch, weil sie aus ihren Milieus nicht herausfind­en, und sie suchen Schuldige dafür: Merkels Politik und die Flüchtling­e.

Ullstein-Verleger Gunnar Cynybulk hatte das Manuskript sofort angenommen. Er hält das Buch, das jetzt erschienen ist, für einen deutschen Spitzentit­el dieses Jahres.

Die vermeintli­ch Schuldigen sind gefunden

» Lukas Rietzschel: Mit der Faust in die Welt schlagen. Ullstein, 320 S., 20 €

 ?? Foto: Ralf Hirschberg­er, dpa ?? Warum finden Pegida, die AfD und Rechtsradi­kale im Osten Deutschlan­ds einen so fruchtbare­n Nährboden? So wie in Chemnitz, wo sich Teilnehmer der rechtspopu­listischen Bürgerbewe­gung Pro Chemnitz zu einer Kundgebung versammeln (Bild). Der Autor Lukas Rietzschel versucht eine Antwort.
Foto: Ralf Hirschberg­er, dpa Warum finden Pegida, die AfD und Rechtsradi­kale im Osten Deutschlan­ds einen so fruchtbare­n Nährboden? So wie in Chemnitz, wo sich Teilnehmer der rechtspopu­listischen Bürgerbewe­gung Pro Chemnitz zu einer Kundgebung versammeln (Bild). Der Autor Lukas Rietzschel versucht eine Antwort.

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