Mindelheimer Zeitung

„Ja mei, man darf halt einfach net sterben!“

100 Jahre Freistaat Als die Augsburger­in Anna Lang zur Welt kam, war Bayern noch eine Monarchie. Sie hat Dinge erlebt, die heute unvorstell­bar sind. Trotzdem sagt die 107-Jährige: Mein Leben ist mit jedem Jahr schöner geworden

- VON SONJA KRELL

Augsburg 1911 – das war das Jahr, in dem Max Frisch und Ronald Reagan geboren wurden. In Belfast lief die Titanic vom Stapel. In Hamburg machte die Eröffnung des Alten Elbtunnels Schlagzeil­en. Bayern war noch ein Königreich mit Prinzregen­t Luitpold an der Macht. Und in Lechhausen, das zwei Jahre später zu Augsburg gehören sollte, kam die kleine Anni zur Welt.

107 Jahre später sitzt Anna Lang in ihrer Stube und sagt: „Mei, ich fühl mich eigentlich net wie ein steinaltes Weible.“Sie hat die schöne Bluse mit den Tupfen angezogen und den passenden Rock, dazu das Halsband aus Spitze, das sie fast jeden Tag trägt. Auf dem Tisch stehen Rosen, die Frauen aus der Turngruppe haben sie geschickt, zusammen mit einer Karte. „Wo ist denn unsere liebe Frau Lang? Wir brauchen Sie doch ganz fest“, steht darin.

Die liebe Frau Lang schaut gerührt auf die Blumen und sagt: „Mei, grad geht’s halt nicht.“Die Beine machen nicht mehr so mit. Vor zwei Jahren, mit 105, da ist sie mit ihrer Tochter auf dem Plärrer noch Kettenkaru­ssell gefahren. Vor vier Jahren sah man sie in Augsburg von Wahlplakat­en strahlen, im Arm von Oberbürger­meister Kurt Gribl. Mit 106 hat sie noch getanzt. Die Frau, die älter als der Freistaat Bayern ist, schüttelt den Kopf und sagt: „Die Zeit vergeht ja so schnell.“

Die zierliche, kleine Dame erzählt von Lechhausen, wo sie fast ihr ganzes Leben verbracht hat, von der Zwei-Zimmer-Wohnung, in der sie allein lebt, von ihrem Tag, der vor sechs Uhr morgens beginnt, weil sie fertig sein will, wenn der Pflegedien­st kommt. Dann frühstückt sie, räumt auf, kocht. „Ich mach mir mein Sach’ schon selber“, sagt sie. Auch geistig ist sie topfit. Sie tippt sich an die Stirn, meint: „Da drin ist noch alles richtig.“Ihre wachen Augen blitzen hinter der Brille hervor und sie kichert, wie sie es so oft tut.

Auch die Erinnerung an die unschönen Jahre ist kein bisschen verblasst. An die Mutter, die zeitlebens über sie verfügt, an den Stiefvater, der sie stets spüren lässt, dass er sie nicht haben will. 1914, als der Erste Weltkrieg beginnt, wird er eingezogen, die Mutter verdingt sich als Magd im 20 Kilometer entfernten Gaulzhofen. Für Anni die schönste Zeit. Auf dem benachbart­en Brandner-Hof hilft sie mit, da fühlt sie sich daheim. Als die Näherin auf den Hof kommt, darf sie sich sogar ein Gewand machen lassen. Sie zeigt auf das Foto von 1916. „Das Kleidle hab ich mir rausgesuch­t, den Kragen und das Knöpfle.“

Sie haben nicht schlecht gestaunt in Gaulzhofen, als Anna Lang vor zwei Jahren aufgetauch­t ist – damals, als eine Münchnerin ihr Leben verfilmte. „Sie werden es nicht wissen. Aber ich war vor 100 Jahren schon einmal hier“, hat sie gesagt. Peter Reich, der Urenkel des Brandner-Vaters, hat sie über den Hof ge- führt. Sie hat ihm die Bilder von damals gezeigt. Und die Geschichte von seinem Urgroßvate­r und dem Kleid erzählt. „,Lass es net zu kurz machen, sonst hock ich’s zam’, hat er gesagt.“Anna Lang muss lachen.

Schneideri­n, das wäre sie gern geworden. Doch der Stiefvater, der als Tagelöhner auf dem Bau arbeitet, will das Lehrgeld nicht zahlen. „Er hat es lieber vertrunken.“Anni hat da bereits harte Jahre hinter sich. Sie geht zur Schule, führt den Haushalt. Zuflucht findet sie nur bei der Oma. Als sie 13 ist, kommt ihr Bruder Anton zur Welt, ihr Liebling. Sie zieht ihn groß, weil die Mutter bald wieder in der Färberei arbeitet. „Das war ja mein Kind“, sagt sie.

Der Stiefvater aber hat andere Pläne. Er will, dass Anni Geld verdient. 1927 ist es auch in Augsburg nicht einfach, Arbeit zu bekommen. Eine Bekannte soll das Mädchen in der SWA, der Mechanisch­en Baumwollsp­innerei und Weberei Augsburg, unterbring­en. „Er gibt mir nimmer länger umsonst das Fressen, hat er zu ihr gesagt.“Wenn Anna Lang das erzählt, hört man Bitterkeit in ihrer Stimme. „Und ich hab so schwer schaffen müssen daheim.“

In der Weberei wartet noch härtere Arbeit auf sie. 20 Pfennig in der Stunde verdient sie am Anfang, später, mit sechs Webstühlen, sind es 50 Pfennig. Anna Lang erinnert sich noch gut: An den Staub, den Geruch und an den unvorstell­baren Lärm der 3000 klappernde­n Webstühle im Saal. Aber auch an den Druck: Die Webstühle mussten in Gang bleiben, brach ein Faden, hatte die Weberin den Stoff von Hand nachzuarbe­iten. Fiel das bei der Kontrolle auf, gab es Ärger.

Sechs Tage die Woche arbeitet Anna in der Fabrik, jeweils neun Stunden, dazu kommt eine Stunde Fußmarsch einfach. Sie knüpft Kontakt zur SPD, um die Bedingunge­n in den Fabriken zu verbessern. „Es war eine bittere Zeit. Da mag ich gar nicht dran denken.“Diese eine Geschichte aber erzählt sie gern: Wie sie den Faden mit dem Mund ins Weberschif­fchen eingezogen hat, damit er feucht wird und sich besser einfädeln lässt. „Da hab ich früh das Küssen gelernt.“Jetzt lacht sie wieder, die älteste Weberin der Stadt. Die älteste Augsburger­in ist sie übrigens nicht. Isabella Paneutz ist einen Monat älter.

Das Handy auf dem Tisch fiept. Anna Lang wischt über das Display. Nein, keine Nachricht von ihrem Enkel Thomas oder einer Bekannten. „Nichts Wichtiges“, sagt sie. Seit drei Jahren hat sie das Smartphone, es ist ja auch praktisch mit den WhatsApp-Nachrichte­n. „Bis man schaut, hat der andere das.“Wenn sie da an früher denkt, allein an das Waschen, für das man Wasser pumpen musste und es dann kübelweise schleppen, rauf und runter. „Die Leute wissen gar nicht, wie schön sie es heute haben. Wie gut es einem geht – als freier Mensch.“

1932 stirbt der Stiefvater. Anna will erfahren, wer ihr richtiger Vater ist. „Das musst du nicht wissen“, meint die Mutter, irgendwann erzählt sie es doch. „Er hat gar nicht weit weg gewohnt.“Seine Frau aber unterbinde­t den Kontakt. Zwei Generation­en lang wird in seiner Familie nicht über Anna gesprochen. „Das war eine verlogene Geschichte. So wie man halt damals war.“

Die junge Anna sucht sich ihre Freiräume. Zu ihrem 21. Geburtstag lässt sie sich ein Gewand nähen, die Haare abschneide­n, geht ins Fotostudio. „Das hat es nicht oft gelitten“, sagt sie und zeigt auf die Schwarz-Weiß-Bilder an der Wand, die eine bildhübsch­e junge Frau mit Wasserwell­en zeigen. Und sie spielt Theater, in der Wirtschaft unter der Wohnung. Später lernt sie einen Schauspiel­lehrer kennen, der auch Magda Schneider, Romy Schneiders Mutter, entdeckt. Zusammen führen sie Stücke auf, er spielt Musik, sie rezitiert Gedichte. „Ich wollte noch keinen Mann“, erinnert sie sich. Ihre Mutter sieht das anders.

Eines Tages steht Hans vor der Tür, ein Kollege aus der Weberei – mit zwei Koffern in der Hand. Die Mutter hat ihm gesagt, er soll einziehen, sein Zimmer ist bereits gekündigt. Anna Lang schüttelt den Kopf. „Und ich hab gar nichts davon gewusst.“Aber der Mutter widersprec­hen? Das hat sie sich nicht getraut. „Man hat halt gefolgt damals. So war das.“Die beiden müssen heiraten, schnell. Anna Lang nimmt den Stapel mit den alten Bildern, kramt das Hochzeitsb­ild hervor. Ernst sieht sie darauf aus. „Es war ein trauriger Tag“, sagt sie. Am Abend will Hans auf den Plärrer, zu seinen Freunden.

Ihr Mann, erzählt sie, wollte versorgt sein, mehr nicht. Die Wochenende­n verbringt er bei seinen Kameraden, beim Wandervere­in oder beim Mandolines­pielen. Dass seine Frau Gedichte liest, ist ihm nicht recht. Sie lässt es bleiben, gehorcht ihm. Sie arbeitet, kocht, putzt, wäscht. Die Zeiten werden nicht einfacher: Anna ist in der Weberei strafverse­tzt worden, weil sie sich gegen einen Erlass gewehrt hat, dem Führer eine Stunde zu schenken. Sie hat genug Arbeit und erst recht nichts für Propaganda übrig. Dann kommt das Jahr 1940: Das Jahr, in dem ihr kleiner Bruder Anton stirbt, Hans in den Krieg muss und Anna ein Kind zur Welt bringt – ihre Karin. Sie schreibt Hans einen Brief. Er schreibt zurück, dass er lieber einen Sohn gehabt hätte. „Dabei war meine Karin doch so ein nettes Mädle.“

Karin Schwarz sitzt neben ihrer Mutter, die 78 Jahre sieht man ihr kein bisschen an. „Mein Vater war eben vom ganz alten Schlag. Frauen waren da nichts wert.“Sie selbst darf nicht auf eine höhere Schule, nur eine Schneiderl­ehre machen.

Während der Kriegsjahr­e näht und wäscht Anna Lang für andere Leute, um die Familie durchzubri­ngen. Dann bleibt sie zu Hause. Hans wollte es so. Der Ehemann, der im Krieg ein Auge verloren hat, fängt als Fräser bei MAN an, bleibt dort bis zur Rente. 33 Jahre lang hat sie einen Schreberga­rten, auch das war seine Idee. Wenn sie bei Freunden waren, wenn Anna lustig war, hat Hans geschimpft, sie führe sich auf. „Ich hab mich nicht freuen dürfen. Man ist immer erniedrigt worden.“

Anna Lang hat es ertragen. Und ist trotzdem ein herzlicher, positiver Mensch geblieben. Sie hat das Lachen nicht verlernt. „Man muss die Dinge so nehmen, wie sie kommen. Und immer wieder die guten Sachen aufnehmen.“

1992 stirbt Hans. „Ich hab mich nicht darüber gefreut. Aber ich war ein freierer Mensch.“Sie zieht in eine kleine Wohnung und beginnt zu leben. Reist mit ihrer Tochter und dem Schwiegers­ohn nach Tunesien und Italien, macht Kreuzfahrt­en auf dem Mittelmeer und der Donau. Seit sie 99 ist, fährt sie regelmäßig nach Bad Wörishofen, feiert dort ihren Geburtstag. Jürgen Fliege hat sie getroffen und Hansi Hinterseer. Mit 101 hat sie von Oberbürger­meister Gribl ein Gratis-Abo für Bus und Tram in Augsburg bekommen – und ihm als Dank zwei Paar Bettschuhe gestrickt. Auch Seehofer hat welche bekommen, als er noch Ministerpr­äsident war. „Er hat mir ja eine Tasse geschenkt. Da muss ich mich doch bedanken.“Und Söder? Tochter Karin holt die Tüte mit der Wolle, vor ein paar Monaten hat die Mutter aufgehört mit dem Stricken. „Es tut mir leid, dass ich das nicht mehr kann“, sagt sie.

Anna Lang will sich nicht beschweren. Sie ist jeden Tag dankbar, dass sie gesund ist und allein leben kann. Sie nimmt die Post der Nachbarn an, sie liest und schreibt, sieht manchmal fern. Sie ist zufrieden. „Mein Leben ist umso schöner geworden, je älter ich bin“, sagt sie. „Es war wunderbar.“Dass sie irgendwann daheim einschlafe­n und nicht mehr aufwachen könnte, das wäre ihr Wunsch.

Wie man es schafft, so alt zu werden und dabei so rüstig zu bleiben? Anna Lang ist seit über 60 Jahren Vegetarier­in. Ob das ihr Geheimnis ist? Die 107-Jährige macht eine kurze Pause, dann sagt sie: „Ja mei, man darf halt einfach net sterben!“

Der Stiefvater zeigt ihr, dass er sie nicht haben will

Wenn sie lustig ist, schimpft ihr Mann

 ?? Fotos/Repros: Ulrich Wagner, Sammlung Anna Lang ?? „Die Zeit ist so schnell vergangen“, sagt Anna Lang. 107 Jahre ist sie alt und damit die zweitältes­te Augsburger­in. Die gerahmte Aufnahme ist an ihrem 21. Geburtstag entstanden. Sie hat sich ein Kleid machen lassen, war beim Friseur – und dann im Fotostudio.
Fotos/Repros: Ulrich Wagner, Sammlung Anna Lang „Die Zeit ist so schnell vergangen“, sagt Anna Lang. 107 Jahre ist sie alt und damit die zweitältes­te Augsburger­in. Die gerahmte Aufnahme ist an ihrem 21. Geburtstag entstanden. Sie hat sich ein Kleid machen lassen, war beim Friseur – und dann im Fotostudio.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany