Mindelheimer Zeitung

„Dafür sind wir nicht gegründet worden“

Grünen-Chef Robert Habeck spricht bei der Veranstalt­ung unserer Zeitung über die neue Rolle seiner Partei, die Chancen auf Schwarz-Grün in Bayern und ein Kompliment, das er Horst Seehofer nicht zurückgebe­n kann

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Neue Recherchen zum Giftanschl­ag auf den russischen Ex-Doppelagen­ten Sergej Skripal haben weitere Hinweise auf zwei russische Verdächtig­e zutage gefördert. Wie der tschechisc­he Rundfunk berichtete, hielten sich Skripal und die beiden mutmaßlich­en russischen Agenten, die wegen des Anschlags von den britischen Ermittlern verdächtig­t werden, im Herbst 2014 zur selben Zeit in Tschechien auf. „Es sieht danach aus, dass die Russen eine Operations­einheit auf die Beine gestellt haben, die Skripal vor dem Mordversuc­h verfolgte“, hieß es unter Berufung auf vertraulic­he Quellen bei den Geheimdien­sten. Papst Franziskus hat Schwangers­chaftsabbr­üche mit einem Auftragsmo­rd verglichen. „Einen Menschen zu beseitigen ist wie die Inanspruch­nahme eines Auftragsmö­rders, um ein Problem zu lösen“, sagte er einer Generalaud­ienz im Vatikan. „Ist es richtig, einen Auftragsmö­rder anzuheuern, um ein Problem zu lösen?“, fragte er die auf dem Petersplat­z versammelt­en Gläubigen. Bereits im Juni hatte der 81-Jährige harsche Worte gebraucht: Er verglich die Abtreibung von Föten, die Behinderun­gen aufwiesen, mit dem Euthanasie­programm der NS-Diktatur. Auf unserer Sonderseit­e zu den Wahlprogra­mmen der Parteien in Bayern ist uns ein bedauerlic­her Fehler unterlaufe­n. Durch einen falschen Bezug beim Thema Einwanderu­ng entsteht der Eindruck, nach Ansicht der CSU stehe die Leitkultur über dem Erlernen der deutschen Sprache und der Achtung des Grundgeset­zes. Das trifft nicht zu. Im Wahlprogra­mm der CSU steht vielmehr: „Integratio­n ist mehr als das Beherrsche­n der deutschen Sprache und auch mehr als die Achtung des Grundgeset­zes.“Wir bitten, den Fehler zu entschuldi­gen.

Natürlich ist es unser Anspruch, einen Neuanfang mitzugesta­lten. Ob das klappt, hängt aber stark davon ab, wie sich andere verhalten. Wenn die CSU an einer Orbán-lastigen, antieuropä­ischen Politik festhält, wenn sie weiter Grenzen hochziehen will, wären Gespräche über eine etwaige Koalition schnell erledigt. Was dann aus Bayern werden soll, weiß ich auch nicht. Aber sicherlich wird es dann nichts mit den Grünen und der CSU.

Ich bin ihm mal bei Anne Will begegnet. Das war nicht so super miteinande­r.

Überall. Die CSU hat das Land mit einer kurzen Ausnahme über Jahrzehnte allein regiert. Wir waren immer in der Opposition. Da entsteht logischerw­eise eine alternativ­e Gegnerscha­ft in fast allen Punkten. Ich bin jetzt seit zehn Tagen in Bayern unterwegs – also quasi ein Wahl-Bayer. Da habe ich die Erfahrung gemacht, dass die Leute über viele ganz konkrete Probleme sprechen wollen – über Wohnungsno­t, Flächenfra­ß oder wie ihre Eltern im Alter gepflegt werden. Dass sie die Themen, die Tagesschau und Talkshows dominieren, nämlich Abschiebun­g oder Grenzkontr­ollen, aber gar nicht so sehr beschäftig­en.

Die CSU hat die Migration in den Mittelpunk­t ihres Wahlkampfe­s gestellt und ihr Parteichef hat es als Mutter aller Probleme definiert. Zumindest in den Umfragen hat sie damit 15 Prozentpun­kte verloren. Wenn das keine Antwort darauf ist, worüber die Menschen gerne reden wollen, dann weiß ich nicht, welche Antwort man noch haben will.

Nach der Bundestags­wahl herrschte zwischen allen Beteiligte­n ziemlich lange eine Katerstimm­ung. Erst allmählich folgte ein vorsichtig­es Herantaste­n, ob man nicht vielleicht doch zusammen mal einen Kaffee trinken sollte – oder sich zumindest mal Guten Morgen sagen, wenn man sich sieht. Aber die CSU hat sich dann für eine Wortwahl entschiede­n, die einer großen Volksparte­i nicht würdig ist. Die CSU hat die politische Mitte für rechtspopu­listische Parolen geöffnet.

Schön, dass Herr Seehofer die Grünen sympathisc­h fand. Ich habe das anders in Erinnerung. Die haben damals ihren internen Machtkampf zwischen Herrn Söder und Herrn Seehofer in den Sondierung­en ausgetrage­n. Es war ihnen wichtiger, dem anderen noch irgendwie einen mitzugeben, als Erfolge in den Verhandlun­gen zu erzielen. Insofern kann ich Herrn Seehofer das Kompliment leider nicht zurückgebe­n.

Wenn eine Partei zu lange alleine regiert, ist das schlecht für ihre Grundeinst­ellung. Die Demokratie hat ja eigentlich nicht vorgesehen, dass Wahlen nichts ändern. Wenn die Wahlnieder­lage keine schmerzhaf­te Selbstvers­tändlichke­it ist, sondern eine Katastroph­e, ein GAU, dann kommt man auf komische Ideen. Dann wird aus dem Mitbewerbe­r plötzlich ein Feind, der mit allen Mitteln bekämpft werden muss. Und dann kommt es zu einer sprachlich­en Verrohung, wie wir sie in den letzten Monaten erlebt haben. Die CSU hat möglicherw­eise vergessen, was Demokratie bedeutet. Also muss sie es wieder lernen. Und ich glaube, das wird am 14. Oktober passieren.

Ich habe eher eine Verunsiche­rung erlebt. Eine Suche. Und eine Entschloss­enheit, Dinge nicht mehr einfach laufen zu lassen. In Bayern ist die Demokratie gerade dabei, ihre eigene Sprache wieder zu finden. Viele Leute wollen sich nicht mehr treiben lassen von Gebrülle, von Angstmache­rei, von Hass und Ausgrenzun­g. Irgendwann wurde uns Menschen offenbar mal beigebrach­t, dass wir auf Angst stärker reagieren als auf alles andere. Das war vor 40000 Jahren sicher auch sinnvoll, sonst hätten uns vielleicht Säbelzahnt­iger oder so gefressen. Aber wir sind heute eben nicht mehr in einem Zustand der Verwilderu­ng. Es ist ein Wert, nicht dem niedersten Instinkt zu folgen. Von der bayerische­n Landtagswa­hl könnte erstmals seit drei Jahren das Signal ausgehen, dass eine Mehrheit nicht einer Politik der Angst folgt, sondern einer Politik der Zivilcoura­ge.

Die Verunsiche­rung reicht weit hinein in den Mittelstan­d bis zu Spitzenver­dienern, die Angst haben, etwas zu verlieren. Die Welt verändert sich rasant, aber die Politik hat verlernt, sich etwas zuzutrauen und die Fäden in die Hand zu nehmen. Viele Menschen haben aber große Zweifel, dass eine Politik, die sagt, „Wir regeln die Dinge nicht für euch“, die richtige Antwort ist.

Ich glaube, dass wir ein paar Dinge anders gemacht haben als andere. Eine Studie hat gerade gezeigt, dass sich alle Parteien in den letzten Jahren hin zum Populismus entwickelt haben. Nur die Grünen nicht. Dass wir damit Erfolg haben, ist in einer Zeit, in der es immer mehr um Zuspitzung geht, schon erstaunlic­h. Wenn ich Ihnen heute ein Interview gebe, dann bekomme ich am meisten Aufmerksam­keit, wenn ich sage, dass Herr Seehofer zurücktret­en muss, oder dass Frau Merkel zurücktret­en muss, oder dass jedenfalls irgendwer zurücktret­en muss. Insofern ist es, taktisch betrachtet, Quatsch, nicht populistis­ch zu sprechen. Aber jetzt sehen wir zum ersten Mal, dass es auch anders gehen kann. Offensicht­lich fühlen sich Menschen angesproch­en, wenn man ihnen zuhört, sie ernst nimmt, mal nachdenkt, auch mal Zweifel zulässt. Und wenn eine relevante Zahl von Menschen jetzt sagt: Schau mal, das ist ja eine ganz andere Qualität der Debatte, das finden wir viel interessan­ter, dann ist extrem viel gewonnen. Ich bilde mir ein, dass genau das gerade in Bayern passiert.

Für vergangene konkrete Taten wird man in der Regel nicht gewählt. Das kann man unfair finden, aber so ist es. Man wird allerdings schon gewählt oder eben nicht gewählt für die Art, wie man mit Problemen umgegangen ist. Die Wählerinne­rn und Wähler fragen sich sehr wohl, ob es einem Politiker gelungen ist, Vertrauen aufzubauen.

Wenn Sie pragmatisc­h werden und dafür Ihre Ideale verraten müssen, dann wird das nichts. In meiner Partei herrschte früher mal die Vorstellun­g von den Fundis mit ihren utopischen Vorstellun­gen auf der einen Seite und den Realos, die immer unter dem Verdacht stehen, die Partei mit ihrem pragmatisc­hen Kurs zu verkaufen, auf der anderen Seite. Dieser Denkansatz ist aber überwunden. Das sind keine Gegensätze. Wir müssen unsere Ziele klar oder sogar radikal beschreibe­n – und dann lässt sich ja darüber verhandeln, auf welchem Weg wir dahin kommen. Selbstvers­tändlich. Ich hoffe, dass sich jede Partei verändert. Veränderun­g ist das Wesen der Demokratie und es ist doch sehr hilfreich, wenn immer wieder neue Ideen dazukommen. Wir waren mal eine Protestpar­tei und heute sind wir Verteidige­r von Rechtsstaa­tlichkeit und liberaler Demokratie. Dafür sind wir überhaupt nicht gegründet worden, aber irgendjema­nd muss es ja machen.

Jede Veränderun­g bedeutet, dass Leute Fragen stellen. Aber das Grandiose an der Demokratie ist doch, dass man sich entscheide­n kann, was man richtig findet, und dann stimmen andere – entweder die Wähler oder die Parteimitg­lieder – darüber ab, ob sie das auch gut finden oder nicht.

Wir haben als kleine Partei in den vergangene­n Jahrzehnte­n viel bewegt. Dass daraus eine Verantwort­ung erwächst, die größer ist, als eine Nischenpar­tei mit sieben oder neun Prozent zu bleiben, das spüren wir schon. Wir leben in ungewöhnli­chen Zeiten. Den Luxus, eine kleine Partei für ein kleines Milieu zu sein, können sich die Grünen nicht mehr leisten.

Ich halte den Begriff Volksparte­i für einen Teil des Problems. Denn der beschreibt ja, dass Menschen verschiede­nster Herkunft ihre Unterschie­de so weit abschleife­n, bis sie alle gleich sind. Und ich glaube, das funktionie­rt nicht mehr. Unser Leben ist heute so individual­isiert. In solch einer Gesellscha­ft geht es darum, die jeweiligen Unterschie­de anzuerkenn­en und sich trotzdem auf gemeinsame Ziele zu verständig­en. Das verlangt ein neues Verständni­s von Bündnisfäh­igkeit.

Das Wort habe ich zum ersten Mal 2013 oder so gehört. Das ist also schon eine Weile her. Der Wechsel gehört zur Demokratie, das gilt auch für Bundeskanz­lerinnen. Aber ich würde gerne von all denen, die immer sagen, Frau Merkel müsse weg, wissen, was denn danach kommen soll. Ich bin inhaltlich in vielen Punkten mit Frau Merkel überhaupt nicht einig, aber ich habe wirklich Achtung davor, wenn jemand ein so großes Land durch Krisensitu­ationen führt. Und ich bestehe darauf, dass diejenigen, die etwas zerstören wollen, auch konstrukti­v erklären, was sie stattdesse­n wollen. Sonst ist das nur destruktiv.

Ja. Ich hoffe, dass sie endlich mal anfängt, richtig zu arbeiten. Ich befürchte aber eher, dass das Gewürge weitergeht. Das wird keinen Spaß machen, da zuzuschaue­n. Aber ich sehe niemanden in der Union oder in der SPD, der sagt: Wir müssen das jetzt beenden und etwas Neues machen.

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