Jeder hat ein dunkles Geheimnis
Vier Fremde stranden in einem mysteriösen Hotel an der Grenze zwischen Nevada und Kalifornien. Was Regisseur und Autor Drew Goddard daraus macht, ist phänomenal
Neulich noch einmal „The Artist“geschaut, dieser bezaubernde, mit Oscars überhäufte Stummfilm. Und da war dann wieder zu spüren, dass das Kino nie so gut und glänzend ausschaut wie im Kinofilm: die Premieren mit dem roten Teppich und dem Blitzlichtgewitter oder die Dreharbeiten, bei denen die Figuren sich nicht nur verlieben, sondern die Schauspieler gleich noch mit. Und natürlich ging in „The Artist“auch von den gemalten Kinoplakaten etwas Magisches aus.
Ah ja. Und jetzt war da auf dem Heimweg am großen MultiplexPalast in Augsburg immer eine Werbung für „Venom“zu sehen. Einfamilienhausgroß prangte dort ein Gesicht, halb Mensch, halb Alien. Von Magie war da wenig zu spüren, mehr schon von den unbegrenzten Möglichkeiten, mit denen heute dank Computertechnik praktisch alles, was man sich vorstellen (und nicht mehr vorstellen) kann, in Filmen gezeigt werden kann. Und es war sofort zu sehen, dass hier der nächste neue Superheld die Bühne betritt. Der wievielte Charakter eigentlich?
Von „The Artist“, der in den 1920er Jahren spielt, zur Kinowirklichkeit heute, fast ein Jahrhundert später, ist es eine weite Strecke. Die Traumfabrik Hollywood hat sich dem seriellen Erzählen verschrieben. Wer da keinen Zugang findet, dem wird diese Art von Kino zunehmend fremder.
Und dann finden die alten Filme auch nicht mehr ihren Weg zurück auf die Leinwand. Kaum ein Kino unterhält noch Reihen, in denen alte Filme regelmäßig zu sehen sind. Wie schade! Das Erinnern und Bewahren übernehmen mittlerweile die Streamingdienste. Genau dort fand ich neulich „The Artist“, diesen Wunderfilm über die Traumfabrik Hollywood. Und es ergreift einen vor dem Monitor eine Sehnsucht nach dem Kino von einst, wie absurd! Mitten durch die Lobby und den Pool führt ein breiter, roter Streifen. Er markiert die Grenze zwischen Kalifornien und Nevada, auf der das Hotel „El Royale“erbaut wurde. Seine goldenen Zeiten hat das Edeletablissement hinter sich und fungiert mittlerweile als Billigabsteige, in der nur ein einsamer Angestellter (Lewis Pullman) seinen Dienst verrichtet.
An diesem Nachmittag checken gleich vier Gäste an der Rezeption des Hotels ein: Der Priester Daniel Flynn (Jeff Bridges), die Sängerin Darlene Sweet (Cynthia Erivo), der redselige Staubsaugervertreter Laramie Seymour Sullivan (Jon Hamm) und die coole Hippiebraut Emily Summerspring (Dakota Johnson). Dass die vier Gäste keine gute Zeit miteinander haben werden, ist schon im Filmtitel festgeschrieben. Aber was Regisseur und Drehbuchautor Drew Goddard in „Bad Times at the El Royale“aus seiner kleinen Figurenkonstellation herausholt – das ist schon phänomenal und auf einer Strecke von schlappen 141 Filmminuten nicht einen Moment langweilig. Goddard („Cabin in the Woods“) ist ein bekennender Genre-Liebhaber und versteht sich unübersehbar als cineastischer Seelenverwandter von Quentin Tarantino, an dessen Indoor-Thriller „Hateful 8“dieser Film erinnert.
Schon frühzeitig wird klar, dass hier kaum jemand die Person ist, die er vorgegeben hat zu sein. Von einem versteckten Gang aus hat der Hotelangestellte dank halbdurchlässiger Spiegel direkten Einblick in jedes Zimmer. Nacheinander werden die Räume und ihre Bewohner aus der Voyeursperspektive vorgestellt. Der Staubsaugervertreter, der die Honeymoon-Suite nach Wanzen durchsucht, der Priester, der die Dielenbretter seine Zimmers aushebelt, die Hippiebraut, die eine junge Frau als Geisel an den Stuhl fesselt, sind erst der Anfang einer Figurenaufstellung, die zunehmend an krimineller Komplexität gewinnt.
„Bad Times an the El Royale“ist ein Film der sich der Hierarchisierung in Haupt- und Nebencharaktere komplett verweigert. Es wird geschossen und gestorben und das nicht zwingend entlang der Gehaltsliste der Darsteller. Szenen werden zurück gespult, um sie aus der Perspektive einer anderen Figur zu zeigen. Plotwendungen setzen mit schaffotartiger Schärfe echte Überraschungseffekte frei. Jede Figur hat eine Vergangenheit, deren Aufdeckung sie und ihr Handeln in einem anderen Licht erscheinen lässt. Und am Schluss zieht der Film mit Chris Hemsworth als gewaltbereiten Sekten-Guru ein As aus dem Ärmel und lässt den Star schon bald wieder spektakulär verglühen.
„Bad Times at the El Royale“glänzt nicht durch die inhaltlichen Prämissen seiner Story. Die mäandert eher vage um Schuld und Vergebung und setzt das dubiose Hotel als weltliches Fegefeuer in Szene. Vielmehr ragt diese Studioproduktion durch ihre narrative und visuelle Brillanz, die sichtbare Freude am cineastischen Erzählen und eine erfrischende Offenheit gegenüber den Charakteren aus dem Mainstream heraus.
Und dann ist da noch Cynthia Erivo, die hier in ihrem Kinodebüt eine enorme Leinwandpräsenz entwickelt. Glücklicherweise gibt Goddard der Tony- und Grammy-Gewinnerin in zahlreichen Gesangseinlagen genug Raum, um ihr musikalisches Talent zu entfalten – und ihre A-Capella-Interpretationen alter Motown-Songs sind schlichtweg atemberaubend.