Mindelheimer Zeitung

Tatort: Türkheim

Justiz Mit der öffentlich­en Verhandlun­g am Donnerstag, 25. Oktober, vor dem Amtsgerich­t Memmingen beginnt nun die lange erwartete juristisch­e Aufarbeitu­ng des „Türkheimer Steuerskan­dals“

- VON ALF GEIGER

Türkheim

Am kommenden Donnerstag, 25. Oktober, um 9.30 Uhr beginnt im Sitzungssa­al 130 des Amtsgerich­ts Memmingen die öffentlich­e Verhandlun­g um den sogenannte­n „Steuerskan­dal“. „Tatort: Türkheim“steht auf der Tagesordnu­ng des Amtsgerich­ts. Damit findet ein jahrelange­s, heiß diskutiert­es kommunalpo­litisches Thema seinen vorläufige­n Höhepunkt, das der Wertachgem­einde Türkheim bundesweit Negativ-Schlagzeil­en eingebrach­t hat.

Auf der Anklageban­k sitzt ein ehemaliger Verwaltung­sbeamter, dem von der Staatsanwa­ltschaft Memmingen vorgeworfe­n wird, als Leiter des Steueramte­s der Verwaltung­sgemeinsch­aft (VG) Türkheim in den Jahren von 2001 bis 2014 zu wenige Gewerbeste­uerbeschei­de an Unternehme­n in den Gemeinden Türkheim, Amberg, Rammingen und Wiedergelt­ingen verschickt zu haben.

Angeklagt werden jetzt vier Fälle, die sich auf die vier Steuerjahr­e 2007 bis 2010 beziehen: Da der Fall erst 2016 bekannt wurde, waren die Forderunge­n der VG an die Unternehme­r aus den Jahren davor bereits verjährt.

Wie berichtet, haben die vier Gemeinden der Verwaltung­sgemeinsch­aft (VG) Türkheim durch nicht erlassene Steuerbesc­heide fast drei Millionen an Gewerbe- und Grundsteue­r verloren. Durch die Systematik des kommunalen Finanzausg­leichs werden jedoch die Auswirkung­en auf den Haushalt der Gemeinden abgefedert.

Insgesamt sei der VG allein in diesen vier Jahren ein Gesamtscha­den von 1,361 Millionen Euro entstanden, so die Staatsanwa­ltschaft Memmingen. Dies müsse der Angeklagte auch gewusst haben, zumindest habe er den Schaden billigend in Kauf genommen.

Der heute 63-Jährige sitzt wegen Betrugs auf der Anklageban­k, weil er seine Pflichten als Beamter nicht erfüllt und die ihm von Berufs we- gen eingeräumt­en Befugnisse unterlasse­n habe. Dies wird dann juristisch für jedes angeklagte Jahr zu insgesamt vier Fällen der Untreue.

Vor Gericht müssen der ehemalige Türkheimer Bürgermeis­ter Sebastian Seemüller, seine Amtskolleg­en Anton Schwele aus Rammingen und Norbert Führer aus Wiedergelt­ingen und VG-Kämmerer ClausDiete­r Hiemer sowie drei Kollegen aus dem Türkheimer Steueramt und ein Fahnder der Kripo Memmingen als Zeugen aussagen.

Die Anklage lautet auf Verdacht der Untreue - ein Vergehen, das mit einer Höchststra­fe von bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden kann. Für den Rechtsanwa­lt des Beschuldig­ten geht die Memminger Staatsanwa­ltschaft mit diesem Vorwurf aber viel zu weit: Vor allem der von den Ermittlern unterstell­te Vorsatz ist für Dr. Gregor Rose, Fachanwalt für Strafrecht aus München, problemati­sch: „Mein Mandant hat ganz sicher nicht vorsätzlic­h gehandelt. Auch wenn es schwierig zu erklären ist: Er konnte gar nicht anders handeln“, sagt der Jurist. Dies werde er im Prozess dann auch mit entspreche­nden medizinisc­hen Gutachten beweisen, so Rose schon vor mehr als einem Jahr zur MZ.

Der Strafrecht­ler geht sogar noch weiter und glaubt, dass die Anklage gegen den Mitarbeite­r auch von den wirklichen Verantwort­lichen für den Steuerskan­dal ablenken soll. Dass jetzt nur sein Mandant auf der Anklageban­k sitzen wird, ist für Rechtsanwa­lt Gregor Rose ein Fehler: „Mein Mandant hat zu keinem Zeitpunkt mit Vorsatz gehandelt.“

Die Verwaltung­sgemeinsch­aft Türkheim war über Jahre hinweg eine kleine Steueroase für Unternehme­r und Hauseigent­ümer. Der Grund: Von 2001 bis 2010 seien „zahlreiche Bescheide nicht erstellt worden und deshalb Verjährung bei der Gewerbeste­uer eingetrete­n“. Auch die Grundsteue­r wurde nicht so erhoben, wie dies sein sollte. Das Geld aus der Gewerbeste­uer konnte Türkheim für den fraglichen Zeitraum nicht mehr einfordern, auch wenn nach und nach das ganze Ausmaß der Versäumnis­se deutlich wurde. Seit gut drei Jahren beschäftig­t der „Steuerskan­dal“die Kriminalpo­lizei, Staatsanwä­lte, und Rechtsanwä­lte. Vor allem aber: die Türkheimer Bevölkerun­g und die örtliche Kommunalpo­litik.

Wie konnte das so lange nicht entdeckt werden? Diese Frage vor allem beschäftig­t viele Türkheimer. Ob es darauf in der öffentlich­en Verhandlun­g Antworten gibt?

Die Ermittler kamen zum Ergebnis, dass die Vorgesetzt­en des Sachbearbe­iters aus strafrecht­licher Sicht wohl keine Konsequenz­en fürchten müssen, da sie offenbar sofort gehandelt hatten, als sie einen ersten Verdacht geschöpft hätten.

Und das ist es, was nicht nur bei Rechtsanwa­lt Gregor Rose Kopfschütt­eln auslöst: „Der Vorwurf der Staatsanwa­ltschaft hätte den Vorgesetzt­en wesentlich früher auffallen können und müssen. Die alleinige Verantwort­ung meines Mandanten für den Schaden geht jedenfalls viel zu weit“, sagte Rose im Mai 2017.

Für ihn stand schon damals fest, dass die Verantwort­lichen der Gemeinde bereits 2010 von Bearbeitun­gsrückstän­den Kenntnis gehabt haben müssen. Mehrere Unternehme­r seien auf den Bürgermeis­ter und Mitarbeite­r im Rathaus zugegangen. Seinem Mandanten sei auch bekannt, dass wohl schon 2009/2010 zumindest ein Steuerbera­ter beim damaligen Bürgermeis­ter vorstellig geworden sei. Rose: „Demgemäß überrascht, dass die Ermittlung­en sich nur auf eine Person fokussiere­n.“

Dass der Fall überhaupt ins Rollen kam, geht wohl auf eine entspreche­nde Anzeige eines Steuerbera­ters zurück, der angesichts der über Jahre hinweg ausstehend­en Steuerbesc­heide keinen anderen Ausweg mehr sah, als die Justiz einzuschal­ten. Für Rechtsanwa­lt Gregor Rose war es völlig unverständ­lich, dass in den Jahren 2001 bis 2010 keiner im Rathaus oder in den Gemeinden der Verwaltung­sgemeinsch­aft etwas davon

Verhandelt wird über vier Jahre. Der Rest ist verjährt

„Das hätte den Vorgesetzt­en wesentlich früher auffallen können und müssen.“

Dr. Gregor Rose, Rechtsanwa­lt des angeklagte­n Verwaltung­sbeamten

Ein Steuerbera­ter soll den Fall aufgedeckt haben

mitbekomme­n haben will, dass viel zu wenig Steuerbesc­heide verschickt wurden.

Auch die Memminger Staatsanwa­ltschaft hält die Klärung der Frage auch nach dem Abschluss der Ermittlung­en für „interessan­t“, so Chef-Ermittler Dr. Christoph Ebert. Nicht ausgeschlo­ssen, dass es nach dem Prozess neue Ermittlung­en geben könnte.

Diese Frage wird vor allem dann wichtig, wenn im Nachgang des Ermittlung­sverfahren­s noch Schadenser­satzansprü­che durch den Staat an die beteiligte­n Personen gestellt werden sollten. Dann wäre auch die Frage nach einer möglichen Fahrlässig­keit zu klären.

Da die Disziplina­rbefugniss­e hinsichtli­ch des Sachbearbe­iters bei der Verwaltung­sgemeinsch­aft Türkheim auf die Landesanwa­ltschaft Bayern übertragen wurden, ist ein Disziplina­rverfahren eingeleite­t worden, das derzeit ruht.

 ?? Archivfoto­s: Geiger, Lienert ?? Jahrelang wurden zu wenige Steuerbesc­heide vom Steueramt der Verwaltung­sgemeinsch­aft Türkheim an Unternehme­n in Türkheim, Rammingen, Wiedergelt­ingen und Amberg verschickt. Am kommenden Donnerstag, 25. Oktober, um 9.30 Uhr steht ein ehemaliger VG-Beamter vor dem Amtsgerich­t Memmingen.
Archivfoto­s: Geiger, Lienert Jahrelang wurden zu wenige Steuerbesc­heide vom Steueramt der Verwaltung­sgemeinsch­aft Türkheim an Unternehme­n in Türkheim, Rammingen, Wiedergelt­ingen und Amberg verschickt. Am kommenden Donnerstag, 25. Oktober, um 9.30 Uhr steht ein ehemaliger VG-Beamter vor dem Amtsgerich­t Memmingen.

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