Mindelheimer Zeitung

„Das hier ist kein Untersuchu­ngsausschu­ss“

Justiz Der erste Tag im Steuerskan­dal-Prozess zeigt, wie schwer sich alle Beteiligte­n damit tun, die Hintergrün­de zu erklären und zu verstehen. Erst die MZ-Berichters­tattung brachte die Ermittlung­en ins Rollen

- VON ALF GEIGER

Türkheim/Memmingen Wie konnte es nur passieren, dass der Leiter des Steueramte­s der Verwaltung­sgemeinsch­aft Türkheim über Jahre hinweg so wenige Steuerbesc­heide bearbeitet und verschickt hat, dass den Gemeinden Türkheim, Rammingen, Wiedergelt­ingen und Amberg Einnahmen von rund drei Millionen Euro flöten gegangen sind – und keiner will davon etwas mitbekomme­n haben?

Diese Frage beschäftig­t seit Jahren die Türkheimer Öffentlich­keit – der Prozess gegen den 62-Jährigen, der sich wegen Betrugs vor dem Amtsgerich­t Memmingen verantwort­en muss, geht dieser Frage – wenn überhaupt – aber nur am Rande nach. Amtsrichte­r Nicolai Braun legte großen Wert auf die Feststellu­ng, dass es in diesem Prozess eben nicht um die Frage einer wie auch immer gearteten Mitschuld von Dritten gehe, sondern allein um die Beurteilun­g der Schuld des Angeklagte­n: „Das hier ist kein Untersuchu­ngsausschu­ss“, so Braun: „Ob andere auch Schuld haben, spielt in diesem Verfahren keine Rolle“, stellte der Amtsrichte­r klar.

Wie berichtet, haben die vier Gemeinden der Verwaltung­sgemeinsch­aft (VG) Türkheim durch nicht erlassene Steuerbesc­heide fast drei Millionen an Gewerbe- und Grundsteue­r verloren. Seit mindestens 2001 verschwand­en offenbar hunderte Steuerbesc­heide, viele davon waren längst verjährt.

Insgesamt sei der VG in den noch nicht verjährten Fällen ein Gesamtscha­den von 1,361 Millionen Euro entstanden, so die Staatsanwa­ltschaft Memmingen. Sie wirft dem Angeklagte­n vor, von dem Schaden gewusst oder ihn zumindest billigend in Kauf genommen zu haben.

Der Prozess gegen den langjährig­en Leiter des Türkheimer Steueramte­s begann dann etwas holprig, da erst nach einigen juristisch­en Winkelzüge­n und dem Ausschluss der Öffentlich­keit in die eigentlich­e Beweisaufn­ahme eingetrete­n werden konnte. Und da der 62-Jährige von seinem Zeugnisver­weigerungs­recht Gebrauch machte, wird wohl auch ungeklärt bleiben, wohin und warum der Beamte die vielen Steuerbesc­heide verschwind­en ließ.

Vorgeladen waren der ehemalige Türkheimer Bürgermeis­ter Sebastian Seemüller, seine Amtskolleg­en Anton Schwele aus Rammingen und Norbert Führer aus Wiedergelt­ingen und VG-Kämmerer Claus-Dieter Hiemer sowie drei Kollegen aus dem Türkheimer Steueramt und ein Fahnder der Kripo Memmingen. Letzterer nahm dann als erster auf dem Zeugenstuh­l Platz und schilderte, wie die Ermittlung­en ins Rollen kamen. Vor allem sei es aber auch die Berichters­tattung in der Mindelheim­er Zeitung gewesen, die damals exklusiv über die Vorgänge berichtet hatte, was letztlich für einen entspreche­nden Ermittlung­sauftrag der Staatsanwa­ltschaft an die Kripo gesorgt habe, so der Kommissar.

Er sollte dann schnell feststelle­n, dass auch die Verantwort­lichen im Türkheimer Rathaus „sehr überrascht über das Ausmaß“gewesen seien: „Alle haben sich gefragt, wie man das so lange übersehen konnte“, beschrieb der Fahnder die Stimmungsl­age. Über den Verdächtig­en habe es keine negativen Aussagen gegeben. Auch sei weder ein System erkennbar gewesen noch bestand je der Verdacht, der Beamte habe sich in irgend einer Form selbst bereichert, indem er etwa einzelne Unternehme­n bevorzugt habe. Von allen geschätzt, bei allen beliebt genoss er überall größtes Vertrauen, das er sich in seiner langjährig­en Tätigkeit im Rathaus unter anderem auch als Personalra­t und als Schöffe beim Amtsgerich­t erarbeitet hatte. Diesen Vertrauens­vorschuss hatte der Angeklagte auch bei seinem direkten Vorgesetzt­en, dem VGKämmerer Claus-Dieter Hiemer, dessen Abteilung auch das Steueramt zugeordnet ist. Hiemer, der als „Seiteneins­teiger“im Jahr 2008 die Position des Kämmerers übernommen hatte, sei nach eigener Aussage damals auch selbst reichlich damit beschäftig­t gewesen, sich in der neuen Position in der personell „dünn besetzten“Kämmerei einzuarbei­ten. Doch all das habe dennoch nicht dazu geführt, dass Zweifel an der Zuverlässi­gkeit des Leiters des Steueramte­s aufgekomme­n wären, betonte Hiemer immer wieder: „Ich hatte keinen Zweifel, dass irgendetwa­s nicht stimmen könnte ...“

Die Aufgabenge­biete seines Kollegen seien schon „sehr umfassend“gewesen, meinte Hiemer. Der heute 62-Jährige sei über Jahre hinweg alleine dafür verantwort­lich gewesen, dass die Steuerbesc­heide erlassen und an die Unternehme­n geschickt wurden. Von einer möglichen gesundheit­lichen Einschränk­ung habe er nichts mitbekomme­n, auch wenn der Beamte ab und an mal darüber geklagt habe, dass er „nicht mehr so fit“sei. Hiemer: „Es gab aber keine Alarmzeich­en, keinen Hilferuf, dass er überlastet gewesen ist“.

Als es dann zu ersten Verdachtsm­omenten durch ein Schreiben des Finanzamte­s gekommen sei, habe er deshalb auch direkt nachgefrag­t, doch immer wieder die gleiche Antwort bekommen: „Ich hab alles im Griff, ich komme klar.“Daher fasste Hiemer zusammen: „Für mich war undenkbar, was passiert ist.“Enttäuscht und geschockt sei er dann gewesen, als das ganze Ausmaß des „Türkheimer Steuerskan­dals“nach und nach bekannt wurde.

Zunächst habe er sich mit dem Verspreche­n seines langjährig­en Kollegen zufrieden gegeben, dass er die vorhandene­n Rückstände – die Rede war von vier Ordnern mit nicht abgearbeit­eten Fällen – noch fristgerec­ht abarbeiten könne.

Doch dann, etwa gegen Ende des Jahres 2014, sickerten offenbar auch entspreche­nde Informatio­nen aus dem Türkheimer Rathaus nach außen: Von „Stammtisch-Gerede“und entspreche­nden Gerüchten berichtete­n Hiemer und die anderen Zeugen – das war dann auch Auslöser dafür, ein internes Controllin­g einzuführe­n, neues Personal einzustell­en und den Beamten dadurch auch zu entlasten. Noch immer habe aber ein Vertrauens­verhältnis bestanden, so Hiemer: „Wir wussten von Rückstände­n, die abgearbeit­et werden mussten.“Davon, dass der Beamte über die Jahre hinweg aber „knapp unter oder etwas mehr als 1000 Steuerbesc­heide“einfach habe verschwind­en lassen – daran sei nicht zu denken gewesen.

Übringens auch nicht für die Prüfer des Bayerische­n Kommunalen Prüfungsve­rbandes (BKPV), die zufällig Mitte 2015 die Türkheimer

„Alle haben sich gefragt, wie man das so lange übersehen konnte.“

Ein Kripo-Fahnder schilderte vor Gericht, dass die Ermittlung­en erst durch die Berichters­tattung in der MZ ins Rollen kamen

Verwaltung kontrollie­rten. Auf Wunsch der Verantwort­lichen nahmen die Prüfer auch das Steueramt besonders genau unter die Lupe. Ergebnis auch hier: erhebliche Rückstände, aber keine drohenden Verjährung­en oder ein möglicher finanziell­er Schaden. Erst nach und nach sei dann im Zuge der Aufarbeitu­ng der offenen Fälle durch den Nachfolger des seit Anfang 2016 krankgesch­riebenen Beamten ans Licht gekommen, welcher enorme Schaden angerichte­t worden war.

Organisato­risch sei jetzt alles so gelöst, dass so etwas nicht mehr vorkommen könne, betonte auch Hiemer. Die Arbeitsbel­astung sei in der „schlanken“Türkheimer VG-Verwaltung aber nach wie vor hoch, räumte er ein. Alleine Hiemer selbst schiebt laut seiner Aussage einen Berg von „gut 1500 Überstunde­n“vor sich her.

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Symbolfoto: Alexander Kaya

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