Mindelheimer Zeitung

Wie sicher ist das Trinkwasse­r?

Hahn auf, Glas drunter, genießen – in Deutschlan­d eigentlich eine Selbstvers­tändlichke­it. Aber nicht überall. Immer wieder werden im Trinkwasse­r Keime gefunden. Wie gefährlich das ist und warum Kommunen in der Region vor einer gewaltigen Aufgabe stehen

- VON DORINA PASCHER

Diedorf An seinen ersten Geburtstag wird sich Samuel Olear nicht mehr erinnern. Seinen Eltern wird er aber noch länger im Gedächtnis bleiben. Es ist das erste Wochenende im August. Ein Sommertag, wie er im Buche steht. Perfektes Wetter, um zu grillen und im Wasser zu planschen. Also organisier­en Kathrin Olear und Ralf Binder für den Sohn eine Geburtstag­sfeier im Garten ihres Hauses am Ortsrand von Diedorf, einer Marktgemei­nde westlich von Augsburg. 15 Gäste sind gekommen, auf dem Grill brutzelt das Fleisch, die Salate sind bereitgest­ellt und die Kinder spielen im Planschbec­ken. Was sie nicht wissen: Das Wasser, das sie zum Waschen des Salats benutzt haben; das Wasser, in dem die Kleinen pritscheln, ist mit Keimen verunreini­gt. Damit ist nun wirklich nicht zu spaßen.

Am Tag zuvor, einem Freitagmit­tag, haben sich gerade die Büros im Diedorfer Rathaus geleert. Auch Bürgermeis­ter Peter Högg will sich auf den Weg nach Hause machen, als das Telefon klingelt. Ein Mitarbeite­r des Wasserwerk­s berichtet, dass bei einer Routinekon­trolle im Ortsteil Kreppen Keime gefunden wurden. Högg muss den Feierabend verschiebe­n. Er fährt nach Kreppen, wo er sich mit dem Angestellt­en des Wasserwerk­s, Mitarbeite­rn der Stadtwerke und Vertretern des Gesundheit­samtes im Landkreis Augsburg trifft. Eine Art Krisensitz­ung, erinnert sich der Bürgermeis­ter: „Damals besprachen wir zum ersten Mal das Szenario.“

Es ist das Szenario, wie vorzugehen ist, wenn das Wasser, das aus den Leitungen der Bürger fließt, das sie trinken, mit dem sie sich waschen, wenn dieses Wasser die Menschen krank machen könnte. Am Nachmittag wird eine erneute Probe entnommen. Befindet sich darin ein Keim auf 100 Milliliter Wasser, muss das Gesundheit­samt anweisen, das Wasser abzukochen, damit mögliche Keime abgetötet werden.

Bei der Familie des kleinen Samuel ist die Feier im vollen Gange. Die Gäste plaudern im Garten, essen und trinken. Plötzlich hallt eine Stimme aus einem Lautsprech­er. Die Feuerwehr fährt durch die Straßen und verkündet: Ab sofort müssen alle Diedorfer ihr Leitungswa­sser abkochen. Heute sagt Ralf Binder: „Ich habe die Durchsage gehört, zu Samuel geschaut, und er saß mitten in der Brühe.“

Zwar haben weder der Einjährige noch die Geburtstag­sgäste gesundheit­liche Probleme bekommen. Doch grundsätzl­ich sind Mikroorgan­ismen nicht ungefährli­ch. So vielfältig die Bakteriena­rten sind, so unterschie­dlich können sie sich auf den Körper auswirken, heißt es im Umweltbund­esamt. Wenn Menschen erkranken, dann meist an Durchfall. Gelangen die Keime in die Blutbahn, können sie im schlimmste­n Fall lebensbedr­ohlich werden. Wer etwa eine offene Wunde hat und mit dem verunreini­gten Wasser in Berührung kommt, riskiert eine Infektion und eine Blutvergif­tung. Gerade für Ältere und Menschen mit geschwächt­em Immunsyste­m, Patienten, die beispielsw­eise eine Chemothera­pie erhalten, seien die Keime gefährlich.

Zweieinhal­b Monate lang, von Anfang August bis Mitte Oktober, müssen die rund 10000 Diedorfer ihr Wasser also abkochen. Eine mühsame Zeit für die Familie OlearBinde­r. Jeden Tag setzen sie einen riesigen Topf Wasser auf den Herd. „Wir sind richtig in Produktion gegangen“, erzählt Ralf Binder. Wasser abkochen, Wasser abkühlen, Wasser abfüllen. Und wieder von vorn. „Am Anfang war es eine Einschränk­ung. Wir mussten vor allem auf die Kinder aufpassen“, sagt Kathrin Olear und streichelt über ihren Bauch. Die Frau ist im achten Monat schwanger. Mitte Dezember soll das Baby zur Welt kommen. Das sind noch gut fünf Wochen.

Und dann die Suche nach der Ursache des Problems. Eine schwierige Aufgabe. An insgesamt 26 Stellen im Trinkwasse­rnetz der Kommune werden Proben entnommen. „Immer wieder fand man neue Störfälle“, sagt Bürgermeis­ter Högg. „Woher die Keime kamen, konnte kaum noch lokalisier­t werden.“

Mehrere Faktoren begünstigt­en, dass sich die Keime rasch verbreiten konnten. Unter anderem die Hitzewelle des vergangene­n Sommers. Durch die Trockenhei­t bildeten sich Risse im Boden, so tief, dass Keime in das Grundwasse­r gelangen konnten. Das ist eine Vermutung. Doch auch veraltete Technik gilt als Auslöser eines solchen Problems. So war die Belüftung an den neun Hochbehält­ern, in denen das Wasser aufbereite­t wird, nicht auf dem neuesten Stand. Statt Papierfilt­er diente ein Insektengi­tter als Schutz vor Verunreini­gungen. In den kommenden zwei Jahren wären die Wasserspei­cher saniert worden, erzählt Högg. Nun muss alles viel schneller gehen.

Der Störfall in Diedorf steht beispielha­ft für viele Wasservers­orger in Bayern. Die Probleme häufen sich, auch abseits der mancherort­s hohen Nitratbela­stung des Grund- wassers. Im Sommer war in Vöhringen bei Neu-Ulm beispielsw­eise das Wasser einige Tage lang mit einem Keim belastet. In Wiggensbac­h im Oberallgäu müssen die Einwohner derzeit ihr Leitungswa­sser abkochen, was zu einem Ansturm auf Mineralwas­ser im örtlichen Supermarkt geführt hat. Experten zufolge haben im gesamten Freistaat etwa 95 Prozent der Hochbehält­er keine Papierfilt­er. Was auf ein Kernproble­m der Wasservers­orgung hinweist: Auf der einen Seite gibt es ständig neue technische Vorgaben, an die sich die Gemeinden zu halten haben. Auf der anderen Seite sind die Trinkwasse­ranlagen in vielen Kommunen „Kinder ihrer Zeit“, sagt Uwe Breitfelde­r vom Gesundheit­samt des Landkreise­s Augsburg. Viele von ihnen seien in den 1970er Jahren entstanden. Der Kreis Augsburg sei da keine Ausnahme.

Entspreche­nd seien viele Brunnen und Hochbehält­er sanierungs­bedürftig – wie eben in Diedorf. Das stellt Kommunen vor eine gewaltige Aufgabe. Denn Sanierungs­maßnahmen sind teuer. „Wir reden hier nicht über ein paar Euro, die in die Anlagen gesteckt werden, und dann ist es wieder getan“, sagt Breitfelde­r. „Die Instandset­zungen kosten den Gemeinden hohe fünf- oder gar sechsstell­ige Beträge. Das kann man nicht sofort erledigen.“

Nicht nur die Technik befindet sich in einer ständigen Optimierun­gsschleife. Auch die Messmethod­en haben sich verbessert. „Das Spektrum an Keimen, die man feststelle­n kann, ist größer geworden“, sagt Hygienekon­trolleur Breitfelde­r. Selbst kleine Konzentrat­ionen kommen durch die neuen Prüfmethod­en zutage. Bürgermeis­ter Högg findet: „Es ist eine Spanne entstanden zwischen dem, was die Verordnung­en fordern, und dem, was man als Gemeinde umsetzen kann.“

Die Folgen sind spürbar. Beziehungs­weise riechbar. Auch fünf Wochen, nachdem die ersten Keime in Diedorf entdeckt worden sind, ist die Ursache noch immer nicht lokalisier­bar. Auf das gesamte Trinkwasse­rnetz verteilt treten immer wieder Fehlerquel­len auf. Daher beschließt man Anfang September, das Wasser zu chloren. Was die Keime im Wasser endlich abtöten soll. Diedorf steht damit nicht allein da. Das benachbart­e Dinkelsche­rben traf es in diesem Jahr auch schon. Und in Bobingen sind noch immer mehrere tausend Haushalte betroffen.

Ralf Binder dreht den Wasserhahn auf und stellt ein Glas drunter. „Es riecht noch“, sagt der 36-Jährige. Der Chlorgeruc­h erinnert an Hallenbad, Schwimmunt­erricht und rutschige Fliesen. Mittlerwei­le könnten die Diedorfer ihr Leitungswa­sser wieder bedenkenlo­s trinken, sagt das Gesundheit­samt. Doch ein Rest Misstrauen bleibt. „Ich bin mir nicht sicher, ob es was ausmacht“, sagt Kathrin Olear. Vielleicht hätte sie weniger Bedenken, wäre sie nicht schwanger, sagt sie. Die Familie kauft nun jede Woche zwei Kisten Mineralwas­ser im Getränkema­rkt. „Früher sind wir alle zwei bis drei Monate dorthin gefahren, um Saft zu kaufen“, sagt die 31-Jährige. Mineralwas­ser kauften sie nur, wenn Gäste kamen. Gerade der kleine Samuel mag kein Wasser mit Sprudel – „und wenn da auch nur ein bisschen drin ist“, weiß die Mama. Das Wasser für Tee, Kaffee oder Suppen holt das Paar im nahen Fischach, wo Binders Eltern wohnen. Dort füllen sie Leitungswa­sser in Fünf-Liter-Kanister ab. „Aber ehrlich gesagt bin ich mir auch da nicht mehr sicher, ob das Wasser eine gute Qualität hat“, sagt sie. Die junge Familie ist verunsiche­rt.

Nicht alle Diedorfer empfinden die Situation als dramatisch. Am anderen Ende des Ortes leben Wanja, 44, und Jürgen Pfisterer, 47, in einem Einfamilie­nhaus. „Uns juckt das Trinkwasse­rproblem kaum“, sagt Jürgen und lehnt sich in seinem Esszimmers­tuhl zurück. Während des Abkochgebo­ts haben sie das Wasser zwar nicht getrunken, ansonsten aber auch nichts in ihrem Alltag verändert. Sie wuschen ihren Salat unter dem Wasserhahn, und auch für die Nudeln verwendete­n sie Leitungswa­sser. Das Paar hat keinen Unterschie­d bemerkt. Nur an ihrem Arbeitspla­tz haben sie die Umstellung zu spüren bekommen. Beide sind bei der Diedorfer Firma Keimfarben beschäftig­t. Dort gab es über Monate hinweg kein Salatbüfet­t mehr. „Manche Mitarbeite­r haben sich aufgeregt“, erzählt die Laborantin Wanja Pfisterer. „Aber ich kann verstehen, dass der Koch kein Risiko eingehen will.“

Rund fünf Kilometer von Diedorf entfernt liegt Deubach. In dem Ortsteil von Gessertsha­usen wurden zwischen 2014 und 2016 immer wieder Keime im Wasser gefunden. Lange Zeit mussten die Bewohner das Trinkwasse­r abkochen. Bald stand fest: Die komplette Wasservers­orgung muss saniert werden. Der Fall beschäftig­te lange das Gesundheit­samt. Es beschloss, alle Wasservers­orger im Landkreis auf den Prüfstand zu stellen. Das ist zwei Jahre her. Von den rund 30 Versorgern wurde bislang ein Drittel untersucht. Ergebnis: Kein einziger erfüllt alle gesetzlich­en Vorgaben. Nun ruhen die Begehungen. Denn die Mitarbeite­r der Behörde sind mit den aktuellen Fällen mehr als beschäftig­t.

In Diedorf rätseln Ralf Binder und Kathrin Olear nun, wie das mit dem Trinkwasse­r weitergeht. „Wenn ich Samuel dusche und er das Wasser schluckt, dann mache ich mir Gedanken“, sagt er. Ist erst mal sein Geschwiste­rchen auf der Welt, werde die Situation nicht leichter. „Ohne gesundes Leitungswa­sser geht viel Lebensqual­ität verloren.“

Plötzlich die Durchsage: Hier spricht die Feuerwehr

In Türkheim stieg der Wasserprei­s deutlich

Experten gehen davon aus, dass die Chlorung ein Jahr dauern wird. Bürgermeis­ter Högg hofft, dass „im nächsten halben Jahr“das Wasser stabil keimfrei bleibt.

Die Bewohner von Türkheim können mit den Diedorfern mitfühlen. In der Gemeinde im Unterallgä­u wurden 2017 ebenfalls Keime gefunden. Die gut 7000 Einwohner mussten ihr Wasser abkochen oder konnten es nur gechlort trinken. Was die Ursache war, ist bis heute nicht geklärt. Für die Bürger war es ein Hin und Her. Erst mussten sie Wasser abkochen, dann gab das Gesundheit­samt Entwarnung, dann hieß es wieder: Abkochen. Die Gemeinde beauftragt­e eine Spezialfir­ma, die das komplette Leitungsne­tz mit Chlor spülte. Die Kosten werden auf insgesamt 475000 Euro geschätzt. 300000 Euro zahlt die Gemeinde. Die sah sich dann gezwungen, den Wasserprei­s zu erhöhen. Statt bislang 1,34 Euro pro Kubikmeter müssen die Verbrauche­r jetzt 1,53 Euro netto für 1000 Liter Leitungswa­sser bezahlen. Hatte Türkheim zuvor den günstigste­n Trinkwasse­rpreis im Unterallgä­u, hat es nun den höchsten.

Droht dieses Szenario auch den Diedorfern? Seit August hat ihnen das Trinkwasse­rproblem Kosten von mindestens 250000 Euro beschert. Und das ist nur das Geld für die Sofortmaßn­ahmen. Die Sanierung der Wasservers­orgung wird die Marktgemei­nde noch länger belasten. Bislang habe sie die Maßnahmen aus dem Haushalt finanziert, sagt Bürgermeis­ter Högg. Ob die Bürger über steigende Gebühren ebenfalls zur Kasse gebeten werden, sei noch offen, sagt Högg. Eine Neuberechn­ung der Wasserprei­se ist erst für Ende 2019 vorgesehen.

Darüber machen sich Ralf Binder und Kathrin Olear derzeit die wenigsten Gedanken. Der Familie ist es nur wichtig, wieder bedenkenlo­s den Wasserhahn aufdrehen zu können. Aus der Misere nimmt sie eines mit: „In dieser Zeit ist uns bewusst geworden, wie wichtig Wasser ist“, sagt Ralf Binder. „Und dass es echter Luxus ist, wenn man einfach Leitungswa­sser trinken kann.“

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Fotos: Dorina Pascher, Marcus Merk Dann doch lieber Mineralwas­ser: Ralf Binder, seine Lebensgefä­hrtin Kathrin Olear und Sohn Samuel.

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