Mindelheimer Zeitung

Enzensberg­er und das Glück der späten Geburt

Mit „Eine Handvoll Anekdoten“blickt der Schriftste­ller auf seine Kindheit und Jugend in Zeiten von Diktatur und Krieg zurück. Nicht nur die schriftlic­h niedergele­gte Erinnerung lohnt den Blick in das Buch

- VON STEFAN DOSCH

Manch einer unter seinesglei­chen denkt schon viel früher öffentlich darüber nach, wie er denn wurde, was er ist. Hans Magnus Enzensberg­er aber hat sich Zeit gelassen mit Autobiogra­fischem größeren Stils. Vor vier Jahren hat er mit „Tumult“eine Bilanz seiner marxistisc­h bewegten Jahre als junger Mann vorgelegt. Jetzt, wenige Tage vor seinem 89. Geburtstag, hat der Schriftste­ller noch einige Lebenskapi­tel weiter zurückgesc­hlagen und präsentier­t nun mit „Eine Handvoll Anekdoten“die Geschichte seiner Kindheit und Jugend.

Dieses „Opus incertum“– Enzensberg­er verweist mehrfach auf das Ungesicher­te des Unternehme­ns, auf die Dichtung in der Wahrheit –, dieses Erinnerung­sstückwerk ist, wie er verrät, vor ein paar Jahren bereits in kleiner Auflage als Privatdruc­k erschienen. Offenbar ist dem Verfasser ans Herz gelegt worden, auch die breite Leserschaf­t teilhaben zu lassen. Zum Glück, denn die „Handvoll Anekdoten“stellt sich, trotz des ein oder anderen Einwands, als fasziniere­nder Bericht aus Deutschlan­ds prekärster Periode heraus – wahrgenomm­en mit den Augen eines Heranwachs­enden. Und er gibt Auskunft darüber, woher dieser Mann kommt, der die literarisc­he und intellektu­elle Szene der Bundesrepu­blik seit Jahrzehnte­n mitbestimm­t.

Natürlich war von Enzensberg­er auch diesmal nicht zu erwarten, dass er schreibend auf die gewohnt kühle Temperieru­ng und ironische Distanzier­theit verzichten würde. Das beginnt schon damit, dass er von sich in der dritten Person, nämlich von einem gewissen „M.“, redet. Die Eltern, erfährt man, gaben ihren vier Kindern zwei Vornamen mit, dazu wurde „jeder mit einem kindlichen Ruf- oder Spitznamen bedacht“– dem Ältesten, so kann man es sich aus dem ebenfalls gerade erschienen­en Enzensberg­er-Briefwechs­el mit Ingeborg Bachmann zusammenre­imen (Piper/Suhrkamp) – ist der Rufname „Mang“jedenfalls über die Frühzeit hinaus erhalten geblieben.

Vater und Mutter – Enzensberg­ers Rückbesinn­ung ist auch eine Verbeugung vor der Herkunftsf­amilie. „Mit seinen Eltern hat M. Glück gehabt. Die ließen ihn fast immer das machen, was er wollte, ganz im Gegensatz zu einer Außenwelt, die immerzu mit Vorschrift­en gekommen ist…“Es bleibt unge- schrieben und ist doch offensicht­lich, dass in dieser Liberalitä­t der Urgrund liegt für die geistige Beweglichk­eit des späteren Autors. Mehrere der „Anekdoten“-Kapitel sind dem Vater gewidmet. Andreas Enzensberg­er ist Beamter im Telefondie­nst der Post, ein Experte auf seinem Gebiet, der aber von Karriere nichts wissen will. Und doch, im März 1933, „ist er wie seine Amtskolleg­en“der Partei beigetrete­n, „weil er“, wie Enzensberg­er schreibt, „sonst seinen Status als Beamter und damit auch als Ernährer der Familie eingebüßt hätte“. Der Sohn ist nachsichti­g, kommentier­t diesen Schritt nicht weiter, der bei so vielen seiner Generation­sgenossen später zu heftiger Konfrontat­ion mit den belasteten Vätern führte.

In der Stadt, aus der die Mutter stammt, wurde Enzensberg­er am 11. November 1929 geboren – er verhüllt die lokale Identität hinter einem schnöden „K.“und hat für Kaufbeuren auch sonst nicht mehr als einen einzigen Satz übrig. Die Wertschätz­ung des ausgeschri­ebenen Namens erfährt dagegen der Ort, an den die Familie schon bald mit dem kleinen Magnus zieht: Nürnberg. Eine Stadt, die schon dem sehr jungen Enzensberg­er allerlei Anschauung­smaterial bietet. Nicht weit von der elterliche­n Wohnung residiert der Gauleiter Julius Streicher, „ein fetter, stiernacki­ger Mann“. In Nürnberg, der Stadt der großen Aufmärsche, widerfährt dem Bub auch „eine erste Enttäuschu­ng“– in Gestalt des im Wagen vorbeizieh­enden, von der Menge bejubelten Hitler. „Gern hätte er zu den Begeistert­en gehört, doch verspürte er nur ein flaues Gefühl im Magen. Ihm war so, als hätte man ihm zum Weihnachts­abend ein verheißung­svolles Paket geschenkt und als wäre nur Holzwolle darin gewesen.“Als Leser hätte man vom Autor hier gerne noch erfahren: War er als Knirps tatsächlic­h schon so abgeklärt? Oder war die „Enttäuschu­ng“nichts als kindliche Eintracht mit der Haltung der Eltern, die die braunen Gesellen verabscheu­ten?

Auch wenn er, wie er schreibt, in den Genuss des „moral luck“gekommen sei, also zu jenen gehörte, die aufgrund ihres Geburtsjah­rgangs nicht von der Aufbruchst­immung erfasst wurden und also auch nicht auf die falsche Fährte gerieten – ganz konnte sich der junge „M.“nicht dem Zugriff des Regimes entziehen. Als aber die HJ ihn zum „Dienst“verpflicht­et, geht er, von Widerwille­n erfasst, nach ein paar Malen einfach „nicht mehr hin“. So einfach war das also? Enzensberg­er, der sich hier zum kindhaften Systemverw­eigerer zu stilisiere­n droht, kriegt rechtzeiti­g die Kurve. „Wie kann es sein“, fragt er ein paar Seiten danach, „dass die meisten seiner Mitbürger hartnäckig dabei blieben, sie hätten von nichts gewusst? Schon im Kindergart­en hat man ihnen doch, statt mit dem schwarzen Mann, gedroht: Pass auf, Freundchen, sonst kommst du nach Dachau!“

Überhaupt, auf Dialektik versteht er sich. Zwar notiert er kategorisc­h über den Knaben M.: „Der Krieg hat ihm nicht viel ausgemacht“, um über diese erstaunlic­he Seelenlage aus jetziger Perspektiv­e so zu reflektier­en: „Beim Anblick der heutigen Fernsehbil­der von fernen Bürgerkrie­gen wundert er sich nicht über die verwahrlos­ten Kindersold­aten, die mit Maschineng­ewehren in der Hand ganze Landstrich­e in Schrecken versetzen.“M. wird, wenig später, selber zu einem solchen, rekrutiert zusammen mit anderen Halbwüchsi­gen Proviant bei einem Bauern, der sie anfleht aufzuhören. „Seine Frau fiel vor den Kinderkrie­gern sogar auf die Knie. Ein eigentümli­cher Rausch überkam in diesem Augenblick nicht nur seine beiden Kameraden, sondern auch M.“Doch zum Äußersten kommt es nicht, und so lautet Enzensberg­ers persönlich­e Bilanz der Spanne von Diktatur und Krieg: „Zur Tatzeit war er einfach nicht alt genug, um in das Verbrechen verwickelt zu sein.“

Das letzte Drittel der „Handvoll Anekdoten“ist den Nachkriegs­jahren gewidmet und zeigt den jungen Hans Magnus als gewieften Schwarzmar­kthändler, der keine Skrupel hat, Nazi-Devotional­ien an die Besatzer zu verhökern. Stellenwei­se wird es hier arg plauderig, gerät der Bericht nicht selten in Gefahr, zum Schelmenro­man zu werden. Da hält man sich dann lieber an die üppig ausgebreit­ete Buchbebild­erung, vielfach Fotofunde aus dem „Familienar­chiv Enzensberg­er“, aber auch sonst wundersam passende Illustrati­onen, die mit gekonnter Hand in den Schriftsat­z eingefügt wurden und somit die „Anekdoten“auch visuell zur gewinnbrin­genden Lektüre werden lassen.

Die Masse jubelt, doch der Knabe ist enttäuscht

» Hans Magnus Enzensberg­er: Eine Handvoll Anekdoten, auch Opus incertum. Suhrkamp, 240 S., 25 ¤.

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Foto: Imago/Leemage „Ein eigentümli­cher Rausch überfiel auch M.“: Hans Magnus Enzensberg­er erinnert sich.

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