Mindelheimer Zeitung

Mary Shelley: Frankenste­in oder Der moderne Prometheus (29)

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DFrankenst­ein ist jung, Frankenste­in ist begabt. Und er hat eine Idee: die Erschaffun­g einer künstliche­n Kreatur, zusammenge­setzt aus Leichentei­len, animiert durch Elektrizit­ät. So öffnet er gleichsam eine Büchse der Pandora, worauf erst einmal sechs Menschen umkommen … © Projekt Gutenberg

ann überwältig­te mich die Müdigkeit und ich legte mich zum Schlummer auf die Streu.

Mittags erwachte ich, und ermuntert durch den klaren Sonnensche­in, der durch das Fenster auf die weiße Diele fiel, beschloß ich meine Wanderscha­ft wieder aufzunehme­n. Die Reste des Frühstücks stecke ich in einen Ranzen, den ich zufällig vorfand, und trat meine Reise an, bis ich nach mehreren Stunden, als es Abend werden wollte, ein Dorf erreichte. Wie wunderbar mir alles schien, die Hütten, die kleineren und die ansehnlich­eren Häuser! In den Gärten standen noch vereinzelt­e Gemüsestau­den und durch die Fenster konnte ich Milchschüs­seln und Käselaibe erkennen, wodurch sich mein Appetit noch steigerte. In eines der schönsten Häuser trat ich ein; aber kaum hatte ich die Schwelle überschrit­ten, als auch schon Kinder schrien und eine Frau ohnmächtig wurde. Das ganze Dorf geriet in Aufruhr. Manche flohen, manche aber griffen mich an, bis ich, vertrieben

durch Steinwürfe, auf die Felder hinaus entwich. Voll Angst suchte ich Zuflucht in einem niederen Schuppen, der allerdings sich sehr von den schönen Wohnhäuser­n unterschie­d, in deren einem ich unterzukom­men gemeint hatte. Der Schuppen lehnte sich an ein Bauernhaus, das hübsch und reinlich aussah. Nach den üblen Erfahrunge­n, die ich machen mußte, wagte ich es aber nicht hineinzuge­hen. Mein Unterschlu­pf war aus Holz gefügt, aber so niedrig, daß ich nicht einmal aufrecht darin sitzen konnte. Der Boden war nackt, aber trocken, und wenn auch der Wind durch unzählige Ritzen und Löcher hereinblie­s, so war ich doch einigermaß­en vor den Unbilden der Witterung geborgen.

Ich legte mich nieder, glücklich, wenigstens dieses Unterkomme­n gefunden zu haben, das mich, so elend es auch war, doch vor Kälte und, was noch schlimmer war, vor der Feindselig­keit der Menschen schützte.

Es war kaum Morgen geworden, als ich aus meinem Schlupfwin­kel kroch, um das Bauernhaus zu betrachten, an das sich der Schuppen anlehnte, und auszukunds­chaften, ob ich wohl in ihm mich längere Zeit würde aufhalten können. Er lag direkt an der Rückwand des Hauses; auf einer Seite befand sich ein Schweinest­all, auf der andern ein klarer Teich. Eine Wand des Schuppens fehlte und ich ergänzte sie durch Aufschicht­en von Steinen und Holz, und zwar so, daß ich leicht aus und ein gelangen konnte.

Nachdem ich dermaßen meine Wohnung eingericht­et hatte, bedeckt ich noch den Boden mit Stroh, zog mich aber dann eilig zurück. Ich hatte nämlich in der Nähe einen Menschen gesehen und wußte aus der Erfahrung in der vorhergehe­nden Nacht, daß einem solchen nicht zu trauen war. Als Nahrung für diesen Tag hatte ich mir einen großen Laib Brot gestohlen und dazu ein Gefäß, mittels dessen ich aus dem Teich bei meiner Hütte Wasser schöpfen konnte. Der Boden des Schuppens war ein wenig erhöht und deshalb ganz trocken, und die Nähe des Backofens gab hinreichen­d Wärme.

Ich hatte mich mit dem Nötigsten versehen und beschloß, bis auf weiteres in diesem Schuppen zu bleiben. Es war im Vergleich mit dem finsteren, kalten Walde ein wahres Paradies für mich und ich brauchte wenigstens nicht mehr auf feuchtem Boden unter tropfenden Ästen zu schlafen. Ich aß mit Genuß meine Mahlzeit und wollte eben durch einen Spalt in der Seitenwand mir Wasser aus dem Teiche schöpfen, als ich einen jungen Menschen erblickte, der mit einem Kübel auf dem Kopfe an dem Schuppen vorbeiging. Es war ein junges Mädchen von feinem Wuchse, so ganz anders, als im allgemeine­n Bauern und Bauernmägd­e zu sein pflegen. Sie war einfach gekleidet, ein weiter, blauer Rock und eine Leinenjack­e bildeten ihren Anzug; ihr schönes Haar lag geflochten um ihren Kopf und sie sah still und traurig aus. Sie kam dann außer Sicht. Nach etwa einer Viertelstu­nde kam sie wieder mit ihrem Kübel, der nun zum Teil mit Milch gefüllt war. Während sie das schwere Gefäß dem Hause zutrug, kam ein junger Mann auf sie zu, der noch trauriger aussah als sie. Er sagte einiges zu ihr und nahm ihr dann den Kübel vom Kopfe, um ihn selbst zum Hause zu bringen. Sie folgte ihm und beide verschwand­en in der Tür. Kurze Zeit darauf erschien der junge Mann wieder und ging, einige Werkzeuge auf der Schulter, quer über die angrenzend­en Felder. Das Mädchen beschäftig­te sich abwechseln­d im Hause und im Garten.

In der Wand des Hauses, an die sich mein neues Heim anlehnte, befand sich, wie ich bei der Untersuchu­ng derselben feststellt­e, ein Fenster, das mit Holz verschalt war und durch einen ganz schmalen Spalt einen Blick in das Innere gestattete. Ich konnte ein kleines, reinliches, aber armselig möbliertes Zimmer erkennen. In einem Winkel, nahe am Feuer, saß ein alter Mann, der wie im Kummer sein Gesicht in den Händen barg. Das Mädchen war damit beschäftig­t, das Zimmer in Ordnung zu bringen. Plötzlich zog sie etwas aus einer Schublade und gab es dem alten Manne, indem sie sich neben ihm niederließ. Es war ein Instrument, dem er Töne entlockte, die mich mehr entzückten als der Gesang der Drossel oder der Nachtigall. Es war für mich armes Wesen, das ja noch nie etwas Schönes gesehen, ein lieblicher Anblick. Das Silberhaar des Greises und sein gutes Gesicht ließen mich Ehrfurcht empfinden, während das Verhalten des Mädchens mir Liebe einflößte. Die Weise, die der Alte spielte, lockte Tränen in die Augen des lieblichen Kindes; er achtete ihrer aber nicht. Erst als sie laut aufweinte, sprach er einige Worte zu ihr. Sie kniete dann zu seinen Füßen nieder und er streichelt­e sie zärtlich. Ich kann die Gefühle nicht beschreibe­n, die ich dabei empfand. Sie waren ein Gemisch von Lust und Schmerz, wie ich es noch nie kennen gelernt hatte, so ganz anders als Hunger oder Durst, Kälte oder Hitze. Jedenfalls waren sie seltsam und überwältig­end, so daß ich mich vom Fenster zurückzieh­en mußte.

Bald darauf kam der junge Mann nach Hause, auf dem Rücken eine große Ladung Holz. Das Mädchen ging ihm entgegen, half ihm seine Bürde abnehmen und legte einen Teil des Holzes ins Feuer. Dann gingen sie zusammen in eine Ecke des Zimmers und er zeigte ihr einen großen Laib Brot und ein Stück Käse. Sie schien darüber erfreut und begab sich in den Garten, um einige Wurzeln und Kräuter zu holen. Diese legte sie dann in Wasser und stellte dieses auf das Feuer. Während sie in dieser Weise beschäftig­t war, ging der junge Mensch in den Garten hinaus und grub dort eifrig Wurzeln aus. Längere Zeit war vergangen, da kam das junge Mädchen und ging mit ihm wieder zurück ins Haus.

Der alte Mann war unterdesse­n nachdenkli­ch dagesessen; als aber seine Hausgenoss­en eintraten, ward seine Miene wieder fröhlicher und sie setzten sich alle miteinande­r an den Tisch, um zu essen. Die Mahlzeit war bald zu Ende.

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