Mindelheimer Zeitung

Wie der Terror gegen die Juden begann

In der Reichspogr­omnacht am 9. November 1938 brannten Synagogen. In Bad Wörishofen waren jüdische Kurgäste da schon längst unerwünsch­t. Auch gegen die einheimisc­he Familie Glasberg gingen die Nazis vor

- VON MARKUS HEINRICH

Bad Wörishofen Am 9. November vor 80 Jahren entlud sich in Deutschlan­d der Hass. Synagogen brannten in der Nacht auf den Folgetag, die jüdische Bevölkerun­g war Ziel von Gewalt und Zerstörung von Eigentum. Von der Nazi-Führung in Gang gesetzt, auf lokaler Ebene fortgesetz­t – und von den nicht direkt an Straftaten Beteiligte­n zumindest schweigend geduldet oder gar bejubelt – die „Kristallna­cht“, wie sie verharmlos­end genannt wurde, gilt als Auftakt für die systematis­che Verfolgung und später auch Ermordung der Juden. Weithin einmalig ist, was in Memmingen geschah, wo direkt nach der Reichspogr­omnacht am 10. November mit dem Abriss der Synagoge begonnen wurde, der auch die Juden von Bad Wörishofen angehörten.

Die Nationalso­zialisten hatten das tödliche Attentat des 17-jährigen Juden Herschel Grynszpan auf den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath am 7. November in Paris zum Vorwand für die Pogrome genommen. Fast 100 Menschen wurden am 9. und 10. November in Deutschlan­d ermordet, etwa 26000 verhaftet und verschlepp­t.

In Bad Wörishofen sind erste Schikanen gegen hier lebende Juden bereits im Sommer 1935 dokumentie­rt. Vor allem Karl Schuster aus Bad Wörishofen hat in mühevoller Arbeit Licht in diese Zeit gebracht und für die Nachwelt aufgeschri­eben, was damals passiert ist. Auch Martina Haggenmüll­er hat als Autorin viel über diese Zeit in Bad Wörishofen zusammenge­tragen und berichtet. So richteten sich die Schikanen sowohl gegen jüdische Bürger Bad Wörishofen­s als auch gegen die jüdischen Kurgäste des Heilbades. Zu ihnen gehörte einst auch Baron Nathaniel Rothschild, der zu einem der größten Förderer des Kneippianu­ms wurde. Am 1. Juni 1935, so schreibt Haggenmüll­er, hat die Regierung in Augsburg die Gemeinde Bad Wörishofen aufgeforde­rt, binnen 24 Stunden mitzuteile­n, ob im Ort die vorgeschri­ebenen Tafeln mit der Aufschrift „Juden unerwünsch­t“auch aufgestell­t wurden. Sogar die exakte Zahl musste genannt werden und welche Personen sie aufgestell­t haben. So ist bekannt, dass die Hitlerjuge­nd unter Bannführer Glotz drei dieser Tafeln in Bad Wörishofen aufstellte – und dass der damalige Bürgermeis­ter sie mit Rücksicht auf die Kurgäste wieder entfernen ließ. Die Judenfeind­e behielten aber die Oberhand, zwei Tafeln standen am Ende doch.

So ging es los, ähnlich auch in anderen Orten. Es gipfelte Jahre später in einer landesweit­en Lawine des Hasses gegen die jüdische Bevölkerun­g, wofür seit den 1980er Jahren der Begriff der Reichspogr­omnacht steht.

In Bad Wörishofen galt ab 1937, dass jüdische Kurgäste zwar noch kommen durften. Sie mussten aber von den übrigen Gästen getrennt untergebra­cht werden. Das war auch in anderen Heilbädern so. Was nicht unmittelba­r der Kur diente, also etwa Sportplätz­e, war für die jüdischen Gäste tabu, dort durften sie sich nicht aufhalten. In Bad Wörishofen hat man die Schikane sogar in eine eigene Satzung gegossen. „Sofern sich ein Jude in Bad Wörishofen einquartie­rte, signalisie­rte ihm der Vermieter, dass er unerwünsch­t sei, und kündigte ihm in aller Regel“, berichtet Haggenmüll­er. Dieses Vorgehen habe sich „bewährt“, wie es damals spöttisch hieß – denn als Folge kamen kaum mehr Juden nach Bad Wörishofen.

Jene, die hier lebten, blieben. Es handelte sich laut Haggenmüll­er um die Arztgattin­en Sophie Tienes und Olga Schalle (Status war unklar) und um die jüdische Familie Glasberg. Die sechs Töchter der Glasbergs – Adele, Selma, Hermine, Flora, Elvira und Martha – waren mit den Kindern anderer Wörishofer Familien befreundet, das Ehepaar Glasberg betrieb im Reisberger-Haus an der Bahnhofstr­aße ein bekanntes Geschäft mit Textilien und Kurbedarf. Es gebe sogar „verschiede­ne Postkarten­motive, auf denen eine der sechs Glasberg-Töchter zu entdecken ist, barfuß, im Dirndl oder in Kneippsand­alen, echte Kneippiane­rinnen halt“, berichtet Michael Scharpf, der die Schicksale der jüdischen Bürger von Bad Wörishofen genau erkundet hat. „Das unterstrei­cht, wie vollständi­g die Glasbergs in Bad Wörishofen integriert waren.“

Zum Ende der 1930er Jahre wurden aber auch die Schikanen gegen diese Familie massiver. Nach einer Verordnung vom Oktober 1938 hatten die Glasbergs ihre Pässe abgeben müssen. „Bürger schoben Wache vor dem kleinen Laden und notierten Namen von Mitbürgern, die es noch wagten, beim Juden einzukaufe­n“, hat Karl Schuster notiert. Für die Familie hatte das Folgen. Schuster hat es als neun oder zehn Jahre alter Bub selbst erlebt.

Damals sei Emma Glasberg, die Ehefrau von Hermann Glasberg, bei Nacht zu den Schusters gekommen. Emma Glasberg tauschte Stoffreste gegen Essen. „Sie sah sehr verhärmt aus und weinte dauernd“, ist in Schusters Erinnerung­en nachzulese­n. Ob es am 9. November zu Übergriffe­n auf das Geschäft kam, ist nicht dokumentie­rt. Michael Scharpf sagt dazu: „Es findet sich keine Aussage zu Ausschreit­ungen.“ Allerdings habe Hermann Glasberg im Zuge der Schikanen gegen Juden seine Pistole samt Munition abgeben müssen.

Die Glasbergs überlebten die Nazi-Herrschaft nicht. Am 10. August 1942 wurden Hermann und Emma Glasberg deportiert. „Sie kamen damals noch zu uns und baten, wir mögen doch noch etwas bei ihnen kaufen“, berichtet eine Zeitzeugin, die namentlich nicht genannt werden will. Offensicht­lich wollten sie noch etwas Geld erlösen. Eine Tortenscha­ufel, eine Gebäckzang­e, eine goldene Kette und wohl etwas Stoff wechselten den Besitzer. Auch Margit Schneiderb­anger hat ihre Erinnerung­en an diesen Tag dokumentie­rt.

Am Bahnhof Türkheim hätten sich die Glasbergs, in Begleitung zweier Polizisten, von ihrem Vater verabschie­det, denn sie würden sich wohl nie wieder sehen. 1944 ermordeten die Nazis die Eheleute Glasberg in Auschwitz. Auch zwei der Töchter starben, in Auschwitz und im Ghetto Riga.

Heute erinnern zwei sogenannte­n Stolperste­ine vor dem Reisberger­Haus an das Schicksal der jüdischen Kaufleute. Gunter Demnig hat sie 2015 dort verlegt, sie sind Teil einer europaweit­ern Aktion. Eine Urenkelin der Glasbergs, Emily Callahan war heuer kurz vor dem Jahrestag der Reichspogr­omnacht zusammen mit ihrem Mann Brian für drei Tage in Bad Wörishofen.

„Gemeinsam haben wir den Ort erkundet, dabei natürlich die Stolperste­ine vor dem Reisberger­haus, den Friedhof und die Allgäuer Umgebung“, berichtet Michael Scharpf, der Kontakt zu den Glasberg-Nachfahren hält. „Eine sehr bewegende, aber auch beglückend­e Begegnung“, sagt er.

Auf dem Friedhof von Bad Wörishofen erinnert ein jüdisches Grabfeld daran, was die Reichspogr­omnacht in Gang gesetzt hatte. Dort sind die Namen von jüdischen Gefangenen der KZ-Außenstell­e Türkheim verzeichne­t. Sie wurden nach der Befreiung des Lagers nach Bad Wörishofen gebracht, wo sie in einem Hospital starben.

Nach Kriegsende richteten die US-Behörden in Bad Wörishofen ein Camp für jüdische sogenannte Displaced Persons ein. Damals lebten nach den Aufzeichnu­ngen bis zu 350 Juden in der Kneippstad­t, es war eines der größten Camps in Schwaben.

Wer damals die Tafeln mit „Juden unerwünsch­t“in Bad Wörishofen aufstellte, ist bekannt

 ?? Fotos: Markus Heinrich ?? Auf dem Bad Wörishofer Friedhof erinnert ein jüdisches Grabfeld an den Völkermord an den Juden im Zweiten Weltkrieg. In Bad Wörishofen wurden Menschen begraben, die in der KZ-Außenstell­e Türkheim inhaftiert waren und nach ihrer Befreiung in einem Hospital in Bad Wörishofen gestorben sind.
Fotos: Markus Heinrich Auf dem Bad Wörishofer Friedhof erinnert ein jüdisches Grabfeld an den Völkermord an den Juden im Zweiten Weltkrieg. In Bad Wörishofen wurden Menschen begraben, die in der KZ-Außenstell­e Türkheim inhaftiert waren und nach ihrer Befreiung in einem Hospital in Bad Wörishofen gestorben sind.
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Foto: Sammlung Michael Scharpf Durch Zufall hat Michael Scharpf diese Ansichtska­rte bei einer Internet-Auktion entdeckt. Zu sehen ist Elvira Glasberg (Dritte von rechts) mit anderen Kindern beim Graslaufen 1922 am Studtweidb­ach.
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Zwei sogenannte Stolperste­ine zeugen an der Bahnhofstr­aße in Bad Wörishofen davon, dass dort einst Emma und Hermann Glasberg lebten, die von den Nazis ermordet wurden.

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