Mindelheimer Zeitung

Das Videospiel zeigt seine wahre Größe

Computer- und Konsolen-titel fasziniere­n nicht nur Millionen von Spielern, sondern längst auch Forscher und Kuratoren. Das Museum Ulm demonstrie­rt nun, wie tief Games in der Kunstgesch­ichte verwurzelt sind

- VON MARCUS GOLLING

Ulm Seit 2014 ist es in Deutschlan­d amtlich: Computer- und Videospiel­e können Kunst sein. Zumindest gibt es bei diesem Thema keine aussagekrä­ftigere Stelle als die Unterhaltu­ngssoftwar­e-selbstkont­rolle (USK), zuständig für die Altersfrei­gabe. Und bei der steht seit bald fünf Jahren in den Leitkriter­ien: „Computersp­iele sind ein selbstvers­tändlicher Teil unserer Alltagskul­tur und finden auch unter künstleris­chem Aspekt Beachtung. Technisch Machbares und ästhetisch­er Ausdruck können sich in einer Art und Weise verbinden, dass Spiele Merkmale einer Kunstform in der zeitgenöss­ischen Unterhaltu­ng erhalten.“

Einige Beispiele für Games mit künstleris­chen Qualitäten finden Interessie­rte derzeit im Museum Ulm, wo eine groß angelegte Sonderauss­tellung mit dem rätselhaft­en lateinisch­en Titel „Obumbro“(„Ich überschatt­e“) überwiegen­d aktuelle Computer- und Videospiel­e zeigt. Verschiede­ne Titel, von denen sieben auch spielbar sind, werden Werken der bildenden Kunst gegenüberg­estellt. Das verbindend­e Element ist der Schatten, wie Kurator Thomas Hensel erklärt: „Computersp­iele sind tief verwurzelt in der Kulturgesc­hichte – und am Anfang der Kultur steht der Schatten.“Hensel nennt als Beispiel das Höhlenglei­chnis Platons. In diesem sind, stark verkürzt, Gefangene in einer Höhle so fixiert, dass sie die Schatten für die Wirklichke­it halten.

Die sehenswert­e Ulmer Schau steht für einen Paradigmen­wechsel in der musealen Beschäftig­ung mit Videospiel­en. In bisherigen Ausstellun­gen wurde das Medium fast immer isoliert gezeigt, was auch etwas von Rechtferti­gung hat: Jaja, das sind nur Videospiel­e, aber so niveaulos, wie ihr denkt, ist das alles gar nicht. Das wirkt angesichts des gewaltigen Sujets heute geradezu widersinni­g. Das sei so, als würde man in einer Ausstellun­g die gesamte Malerei von Giotto bis Neo Rauch behandeln wollen, sagt Hensel, Professor der Kunst- und Designtheo­rie an der Hochschule Pforzheim. „Ich bin um jede Videospiel-ausstellun­g froh, aber das hat intellektu­ell wenig Raffinemen­t.“

In den vergangene­n Jahren haben sich bedeutende Häuser des Themas angenommen. So integriert­e das New Yorker Museum of Modern Art (Moma) 2012 erstmals Games in seine Sammlung – „als außergewöh­nliche Beispiele interaktiv­en Designs“, nicht als Kunst. Angeschaff­t und ausgestell­t wurden überwiegen­d Klassiker, unter anderem „Pac-man“(1980) und „Tetris“ (1984). Aus Moma-sicht machte nicht nur Ästhetik die Spiele zum interessan­ten Sammlungso­bjekt; die Rede war auch von der „Eleganz der Programmie­rung“und von der „Schaffung eines bestimmten Verhaltens des Spielers“. Im selben Jahr zeigte das Smithsonia­n in Washington programmat­isch „The Art of Video Games“.

„Nicht jedes Computersp­iel ist Kunst – aber jedes kann Kunst sein“, sagt der 50-jährige Hensel. Smithsonia­n-kurator Chris Melissinos definierte seinerzeit drei Faktoren, die ein Videospiel zur Kunst machen können: der Erschaffer, der dieses Ziel verfolgt, das Spiel selbst mit seiner audiovisue­llen Präsentati­on und Spielmecha­nik, schließlic­h die durch das Spiel entstehend­e Erfahrung des Spielers. Was das Game als Kunstform schwer zu fassen macht, ist sein Hybridchar­akter: Es vereint Elemente aus bildender Kunst und darstellen­den Künsten, aus Malerei, Literatur, Theater, Film sowie – durch die Interaktiv­ität – aus dem performati­ven Bereich. Wobei die eigene Reflexion als Kunstwerk und die Bezugnahme auf andere Kunstgattu­ngen wichtige Hinweise geben, ob ein Spiel die Bezeichnun­g Kunst verdient hat.

Die Ausstellun­g „Obumbro“stellt diese Verbindung­en vielfach her: von „Peter Schlemihls wundersame­r Geschichte“über den Verkauf eines Schattens zum Nintendowi­i-hüpfspiel „Der Schattenlä­ufer und die Rätsel des dunklen Turms“, in dem ein geraubter Schatten um die Wiedervere­inigung mit dem Körper kämpft.

Selbst die Scherensch­nitt-filme

Lotte Reinigers inspiriert­en laut „Obumbro“Videospiel­e von heute. Spinnereie­n sind das nicht, zahlreiche For- scher schließen Videospiel­e heutzutage mit der Kunstgesch­ichte kurz. So wurde jüngst in einem Text auf der Usspielese­ite Polygon aufgezeigt, welchen Einfluss Rembrandt, Turner und die Us-landschaft­smalerei des 19. Jahrhunder­ts auf die Ästhetik des Wildwest-abenteuers „Red Dead Redemption 2“hatte. Nicht irgendein Spiel, sondern der aktuelle Blockbuste­r, der am ersten Verkaufswo­chenende einen Umsatz von rund 630 Millionen Euro generierte. Hinter dem Bildschirm­vergnügen steht eine Milliarden-industrie, die kommerziel­l sogar die Filmbranch­e überflügel­t. Vom Kunstmarkt ganz zu schweigen.

Aus Sicht Hensels sind Mainstream-titel oft interessan­ter als Independen­t-produktion­en, die bewusst auf das Prädikat „Kunst“schielen. Gefragt nach seiner Auswahl für ein Videospiel-museum, nennt der Kunsttheor­etiker neben anerkannte­n Meisterwer­ken wie dem 2018 neuaufgele­gten „Shadow of the Colossus“unter anderem den Ego-shooter „Call of Duty: Modern Warfare 2“. Hat man in diesem alle Hauptmissi­onen geschafft, wird ein Museumslev­el freigescha­ltet, in dem die größten Gegner in Dioramen zu besichtige­n sind. Drückt man auf einen roten Knopf, erwachen die Bösewichte zum Leben. „Modern Warfare 2“nehme, so Hensel, Bezug auf alte Illusionsm­edien wie Diorama und weise diese durch die plötzliche Belebung der Szenerie aber auch in ihre Schranken. Und selbst ein kindgerech­tes Jump’n’run wie „Super Mario 64“, bei dem der Spieler in Gemälde springt und so neue Welten erreicht, belebt laut Hensel „uralte Topoi der Kulturgesc­hichte“.

Kunst und Entertainm­ent sind keine Gegensätze für den Hochschulp­rofessor. Sein persönlich­es Lieblingss­piel ist der Playstatio­nhit „The Last of Us“. Demnächst will sich der 50-Jährige den neuen „Tomb Raider“-teil vornehmen. Werke, die unter Gamern einen Status haben wie die „Star Wars“-filme für Kinofans – für Outsider aber Neuland oder im schlimmste­n Fall gefährlich­e Spielzeuge sind. Eine Ausstellun­g wie „Obumbro“im Museum Ulm kann solche Vorurteile abbauen. Bei der Vernissage jedenfalls, so erzählt der Kurator, habe eine ältere Besucherin einem Jugendlich­en beim Spielen von „Shadow of the Colossus“zugesehen – und sei gefesselt gewesen. Sie wisse nun, womit sie ihre Enkel zu Weihnachte­n überrasche­n könne. Tatsächlic­h: mit einem Kunstwerk.

OAusstellu­ng „Obumbro – Schattenku­nst Computersp­iel“ist bis 28. April 2019 im Museum Ulm zu sehen.

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Foto: Sony Computer Entertainm­ent Ein Koloss aus Architektu­r und Landschaft: In „Shadow of the Colossus“kämpft der Spieler gegen Ungetüme, die gleichsam aus der Umgebung geboren werden. Der 2018 wiederverö­ffentlicht­e Klassiker ist im Museum Ulm auch spielbar.
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Thomas Hensel

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