Mindelheimer Zeitung

Die Diakonisch­e gibt ihm Halt

In der Tagesstätt­e finden Menschen mit seelischen Problemen Anschluss – und oft neuen Lebensmut

- VON SANDRA BAUMBERGER

Mindelheim Für Manfred Müller (Name von der Redaktion geändert) ist ganz klar: „Wenn ich nicht so feige gewesen wäre, wäre ich bestimmt aus dem Leben geschieden.“Bianca Frey hatte es versucht – glückliche­rweise erfolglos. Die beiden wissen, wie es sich anfühlt, wenn das Leben nur noch grau und dunkel erscheint, wenn die Kraft fehlt für kleinste Aufgaben, wenn das Gefühl, in einem tiefen schwarzen Loch zu sitzen und es nicht aus eigener Kraft verlassen zu können, übermächti­g wird. So mächtig, dass man lieber sterben will, als weiter in diesem Loch zu sitzen. Und auch Robert Gisar sagt: „Ich weiß nicht, wo ich ohne das hier wäre: in der Gosse oder eine Etage tiefer.“

Das hier, das ist die Tagesstätt­e der Diakonisch­e des Sozialpsyc­hiatrische­n Zentrums für Menschen mit seelischen Problemen in Mindelheim. Sie hat den Dreien geholfen, ihre Depression zu verstehen, sie anzunehmen und damit umzugehen. „Wenn ich nicht hierherkom­me, habe ich Angst, zurückzufa­llen. Und das will ich nicht mehr“, sagt Robert Gisar. Denn das schwarze Loch ist immer noch da. Doch wenn er jetzt hineinfäll­t, kann der 64-Jährige schneller wieder herausklet­tern.

Ganz ähnlich beschreibt es Manfred Müller, für den dieses Gespräch noch vor Kurzem unvorstell­bar gewesen wäre: Alles Neue machte ihm Angst, ständig befürchtet­e er, ausgenutzt und hintergang­en zu werden. „Mein Leben ist eine Achterbahn“, sagt er. „Es geht runter, aber es geht auch wieder rauf.“

Als er vor rund sechs Jahren zum ersten Mal in die Diakonisch­e kam, war sich deren Leiterin Hannelore Krause sicher: „Der kommt nie wieder.“Tatsächlic­h kommt Manfred Müller inzwischen jeden Tag. Er schnippelt Gemüse, deckt den Tisch im Bistro, bedient die Gäste. „Wenn hier für einen Tag zu ist, weiß ich gar nicht, was ich mit mir anfangen soll. Hier hat man das Gefühl, dass man was wert ist.“Mit seinem Einsatz will der 55-Jährige aber auch „eine Kleinigkei­t zurückgebe­n“. Schließlic­h habe die Diakonisch­e so viel für ihn getan und tut es immer noch: Hier hat er gelernt, seine Ungeduld zu zügeln und Probleme anders zu lösen als aggressiv und brüllend. Hier hat man ihm bei der Privatinso­lvenz und der Erwerbsmin­derungsren­te geholfen und hierher kann er kommen, wenn wieder einer dieser Behördenbr­iefe kommt, vor denen er so einen Horror hat – auch wenn der Rentenbesc­heid doch eigentlich ein Grund zur Freude wäre.

Selbst wäre er nie auf die Idee gekommen, das Angebot zu nutzen. Nicht er, der niemandem vertraute und für den jeder Psychologe gleich- bedeutend war mit dem Bezirkskra­nkenhaus. „Mein erster Gedanke war immer: Die lassen mich einweisen.“Vermittelt hat den Kontakt eine Mitarbeite­rin der Arbeitsage­ntur, der er später aus Dankbarkei­t einen Blumenstra­uß vorbeigebr­acht hat.

Auch Bianca Frey ist froh, dass sie sich vor vier Jahren doch endlich überwunden hat, zur Diakonisch­e zu gehen. Ihr Arzt hatte ihr das schon lange ans Herz gelegt, doch die Hemmschwel­le war groß: Schließlic­h ist da die große Landwirtsc­haft daheim in Tiefenried, die viele Arbeit. „Ich hab gar keine Zeit, um hierher zu kommen und Kaffee zu trinken“, war sie überzeugt. Dann hat sie doch einen Termin fürs Erstgesprä­ch vereinbart, danach war gleich die Kreativwer­kstatt und für Bianca Frey klar: Hier komme ich wieder her. Weil sie gleich Teil der Gruppe war, sie hier sein kann, wie sie ist, sich nicht erklären muss. „Hier versteht jeder, wie’s einem geht. Man hat immer wen zum Reden.“Zuhause und im Freundeskr­eis ist das anders. Da gilt die 40-Jährige als faul. „Wie kannst du so was haben, du hast doch einen großen Hof?“, hat sie oft gehört. Gerade so, als ob der große Hof davor schützen könnte, seelisch krank zu werden.

Robert Gisar hat durch die Depression­en alle Freunde verloren – und beinahe auch seine Frau. „Ich hatte für nichts mehr Interesse. Mich hat nichts bewegt. Mir war einfach alles egal“, beschreibt der Türkheimer seinen damaligen Tiefpunkt. Doch als seine Frau mit Scheidung drohte, ging er endlich zum Arzt – und bald auch in die Diakonisch­e. Er weiß es zu schätzen, dass er jederzeit hierher kommen kann, aber eben nicht muss.

Diese Möglichkei­t hat im Übrigen jeder, der sich von einer psychische­n Krankheit bedroht sieht, betont Hannelore Krause. Jeden Mittwoch gibt es zwischen 15 und 17 Uhr eine offene Sprechstun­de, zu der man sich nicht einmal anmelden muss. Sie ist unverbindl­ich und – wie auch der Besuch der Tagesstätt­e – kostenlos. „Manche brauchen nur ein paar Beratungsg­espräche, andere eine dauerhafte Begleitung“, ist Krauses Erfahrung. „Viele haben den Eindruck, vor einem Riesenberg zu stehen, den sie nicht bewältigen können.“Die Diakonisch­e hilft ihnen dabei, ihn mit kleinen Schritten zu bezwingen. „Man steht nicht alleine da“, sagt Robert Gisar. Und man hat Zeit. „In der Klinik hat man vier bis acht Wochen und dann ist denen egal, ob’s einem wieder gut geht oder nicht“, sagt Bianca Frey. „Hier hat man kein Datum, wo’s wieder vorbei ist.“Ihre Depression­en sind inzwischen besser geworden und auch Robert Gisar sagt: „Ich glaube, aus dem tiefen schwarzen Loch sind wir jetzt heraußen.“Manfred Müller nickt: „Der Weg war lang und steinig – und man fällt auch mal auf die Schnauze.“Aber alle drei wissen jetzt, dass und wie sie sich wieder aufrappeln können.

OOffene Sprechstun­de Immer mittwochs von 15 bis 17 Uhr kann ohne vorherige Anmeldung jeder in die Diakonisch­e kommen, der sich psychisch krank fühlt. Außerhalb der offenen Sprechstun­de kann man unter der Telefonnum­mer 08261/909660 oder per E-mail an diako-nische@diakonieme­mmingen.de einen Termin vereinbare­n. Sowohl die Beratung als auch der Besuch der Tagesstätt­e, die von der Diakonie getragen wird, sind kostenlos. Finanziert wird das Angebot vom Bezirk Schwaben sowie über Spenden.

 ?? Fotos: Sandra Baumberger ?? Robert Gisar arbeitet regelmäßig und mit großer Begeisteru­ng in der Holzwerkst­att der Diakonisch­e. Den Hocker hat er selbst entworfen. „Wenn ich nicht hierherkom­me, habe ich Angst, zurückzufa­llen“, sagt er.
Fotos: Sandra Baumberger Robert Gisar arbeitet regelmäßig und mit großer Begeisteru­ng in der Holzwerkst­att der Diakonisch­e. Den Hocker hat er selbst entworfen. „Wenn ich nicht hierherkom­me, habe ich Angst, zurückzufa­llen“, sagt er.
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Hannelore Krause

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