Wenn alles ausweglos erscheint
Der Mindelheimer Arzt Dr. Wilfried Mütterlein macht Betroffenen und ihren Angehörigen Mut
Mindelheim Laut dem Bundesgesundheitsministerium gehören Depressionen zu den häufigsten Erkrankungen – und zu den am meisten unterschätzten. Weltweit leiden rund 350 Millionen Menschen unter Depressionen. Die Weltgesundheitsorganisation geht davon aus, dass sie bis 2020 die zweithäufigste Volkskrankheit sein werden. Im Gespräch mit der erklärt der Mindelheimer Neurologe und Psychiater Dr. Wilfried Mütterlein unter anderem wie man Depressionen von einem Stimmungstief unterscheiden und wie man als Angehöriger helfen kann.
MZ Wie kann man ein Stimmungstief von einer echten Depression unterscheiden?
„Bei einer seelischen Krise hat man das Gefühl, sie überwinden zu können“, erklärt Mütterlein. „Bei einer Depression erscheinen die Probleme dagegen nicht lösbar, sie werden überdimensional erlebt.“Die Handlungsfähigkeit der Betroffenen sei beeinträchtigt, sie seien wie gelähmt und hätten oft das Gefühl: „Mich erdrückt das, ich komme da nicht mehr raus.“„Eine Depression ist keine klassische Traurigkeit.“Die Patienten fühlten eine große Leere und Kraftlosigkeit. „Man kann sich das vielleicht so vorstellen: Man ist auf dem Dachboden, plötzlich geht das Licht aus und alles wirkt bedrohlich. Diese subjektive Bewertung macht die Depression aus, sie verfälscht auch die Erinnerung. Der Depressive sieht nichts Buntes, Lebendiges mehr, sondern nur noch Bedrohliches, Düsteres und Schlechtes – wie wenn er eine Brille auf hätte, die alles andere ausblendet.“
Was sind die Ursachen von Depressionen?
Laut Mütterlein gibt es viele Wege in die Depression. Es gibt Anlagefaktoren, die eine Rolle spielen können, und auch die Lebensumstände oder persönliche Einstellungen können eine Depression begünstigen. Wer zum Beispiel sehr leistungsorientiert ist und diese Leistung beispielsweise krankheitsbedingt nicht mehr erbringen kann, kann Depressionen bekommen. Auch Einsamkeit und ein fehlendes soziales Netz sind Risikofaktoren. „Viele Depressionen kann man nicht erklären“, sagt Mütterlein und rät, sich als Außenstehender vor Schuldzuweisungen zu hüten.
Wann sollte man zum Arzt?
„Wenn man merkt, dass die Kräfte nachlassen, man nur noch schlechte Tage hat und auf jeden Fall, wenn Suizid-gedanken aufkommen“, rät Mütterlein. Viele hätten Angst, dass Letztere automatisch zu einer Zwangseinweisung in eine psychiatrische Klinik führten. Dies sei aber fast nie der Fall, betont er.
Wie können Angehörige und Freunde helfen?
Weil Depressionen für Außenstehende meist nur erkennbar seien, wenn sie den Betroffenen sehr gut kennen, rät Mütterlein ihnen, ihren Verdacht offen anzusprechen, jedoch ohne Abwertung. Sie können die Zusammengehörigkeit betonen, die Geborgenheit schaffen, die der Erkrankte nicht mehr empfindet – und ihn dazu auffordern, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Familie oder Freunde können keine Therapeuten sein, aber mit diesem zusammenarbeiten und sanften Druck ausüben, indem sie den Kranken beispielsweise auffordern, sich anzuziehen und einen kleinen Spaziergang zu machen.
Sind Depressionen heilbar?
Bis auf wenige Ausnahmen ja. „Sie sind heilbar und gut behandelbar“, so Mütterlein. Er betont, dass Medikamente, die viele Betroffene ablehnen, nur ein Teil der Therapie seien und niemandem aufgedrängt werden. Gleichwohl handle es sich um eine „sehr schwere, unangenehme Krankheit“, die mit einem hohen Leidensdruck verbunden sei und für rund 15 Prozent der Betroffenen tödlich ende. Die Angehörigen und auch die Erkrankten brauchen laut Mütterlein viel Geduld. Denn für Depressionen gebe es keine Zeitvorgabe: „Man sieht, dass der Patient in einen Tunnel gefahren ist, weiß aber nicht, wann er wieder rauskommt“, veranschaulicht es der Mediziner.
Treten Depressionen heute häufiger auf als früher?
„Nein, das glaube ich nicht“, sagt Mütterlein. „Klassische Depressionen gibt es schon immer.“Allerdings sei das Bewusstsein für die Krankheit gestiegen und es werde häufiger darüber gesprochen.