Mindelheimer Zeitung

Glücksmome­nte

Titel-Thema Es heißt doch immer, die großen Dinge sind die Sahnehäubc­hen im Leben: Hochschulr­eife, Hochzeit, Hausbau. Wahres Glück. Stimmt das gar nicht? Über den Wert des Alltags und eine vom Schicksal geprüfte Frau, die sagt: Ich kenne niemanden, der gl

- VON STEPHANIE LORENZ UND DORINA PASCHER

Augsburg Wie kann ich jemals wieder glücklich werden? Gisela Steinhaus hat sich diese Frage oft gestellt. Jedes Mal, wenn ein neuer Schicksals­schlag die Augsburger­in traf. Und dann war da noch die andere Frage: Warum trifft das Unglück immer mich?

Wer der Frau heute begegnet, ahnt nichts von all den schmerzlic­hen Erfahrunge­n. Voller Elan schwingt sie die Haustür auf und nimmt den Besuch mit einem strahlende­n Lächeln in Empfang.

Gisela Steinhaus ist in diesem Jahr 70 geworden. Das sieht man ihr nicht an. Sie hat einen modernen Kurzhaarsc­hnitt und trägt ein sportliche­s Oberteil mit Strass-Applikatio­nen. Sie hält sich mit Aquafitnes­s und Wirbelsäul­engymnasti­k fit, arbeitet in Teilzeit als Speditions­kauffrau, lädt gerne zu Grillparty­s ein und wohnt mit einer knapp 40 Jahre jüngeren Frau zusammen. Die geschminkt­en Lippen harmoniere­n mit den rot lackierten Nägeln.

Gisela Steinhaus nimmt im Wintergart­en Platz, vor ihr eine Tasse Kaffee auf einem Spitzendec­kchen. Bevor sie beginnt, von ihren Schicksals­schlägen zu erzählen, sagt sie: „Ich kenne keinen Menschen, der glückliche­r ist als ich.“

Mit 17 wird sie schwanger. Sie heiratet den Vater des Kindes. Es ist keine glückliche Ehe. Der Mann ist jähzornig, eifersücht­ig, er schlägt sie und sein Kind. Die zweite Tochter, die inzwischen zur Welt gekommen ist, lässt er in Ruhe. Mit 27 reicht die Mutter die Scheidung ein. Er droht, sie umzubringe­n – und wirft sich selbst vor einen Zug. Die Familie von Gisela Steinhaus gibt ihr die Schuld für den Suizid. Die nun alleinerzi­ehende Mutter fühlt sich im Stich gelassen.

Vier Jahre später bekommt Gisela Steinhaus ein Todesurtei­l: Sie hat Krebs, im Endstadium. Die Ärzte geben der damals 31-Jährigen nur noch wenige Monate. Sie unterzieht sich einer schweren Operation. Sie kämpft. Stirbt sie, sind ihre Töchter Vollwaisen. „Die Option zu sterben, gab es für mich nicht“, sagt die Mama heute. Sie besiegt den Krebs. Mit Mitte 30 hat sie mehr Schicksals­schläge durchlitte­n als andere in ihrem ganzen Leben. Es werden nicht die letzten gewesen sein.

Tiefschläg­e gehören zum Leben. Das weiß auch der österreich­ische Glücksfors­cher Anton Bucher. In seinem Büro an der theologisc­hen Fakultät der Universitä­t Salzburg stapeln sich die Bücher auf einem schlichten Holztisch. In seinem eigenen Buch „Glück des Traurigsei­ns“steht: „Es gehört zum Leben dazu, dass man mal traurig ist.“Immer glücklich zu sein – das sei nicht nur unmöglich, sondern gar nicht erstrebens­wert. Es brauche die „Kontraster­fahrung“, also unglücklic­he Zeiten, um wieder für das Glück empfänglic­h zu sein. Daher sagt der Wissenscha­ftler: „Menschen mit Schicksals­schlägen sind glückliche­re Menschen als die Menschen, die konstant Glück erfahren haben.“

Glück. Es ist so vielschich­tig wie die Fasern eines Kleeblatts, ungreifbar wie ein Regenbogen. Glück ist subjektiv. Es gibt Menschen, die würden sich nie als glücklich bezeichnen, eher als zufrieden. Andere streben ganz gezielt nach „Glück“. Nach großen Momenten. Wenn das Haus gebaut, das Studium absolviert, das Rentenalte­r erreicht ist – das ist für sie Glück. Doch Bucher warnt: „Wenn das Ziel erreicht ist, hält das Glück meist nur kurz.“Nach dem Hausbau entdeckt der Besitzer Risse im Parkett, nach dem Studium sucht man einen Job, nach dem Renteneint­ritt fehlt eine sinnstifte­nde Tätigkeit. Das Glück, so die Folgerung, liegt nicht immer hinter einer Zielgerade­n, sondern am Straßenran­d.

Oder am Augsburger Hauptbahnh­of. In zwanzig Minuten fährt der ICE Richtung Berlin ein. Eine blonde Frau mittleren Alters sitzt zusammenge­kauert auf einer Holzbank, den grauen Schal tief ins Gesicht gezogen. Ihre Hände umklammern einen Kaffeebech­er. Neben ihr: ein junger Mann, schwarze Jacke, schwarze Hose, schwarzer Koffer. Er starrt geradeaus. Grauer Himmel, zwei Grad.

Ob die Wartenden glücklich sind? Sieht man Menschen Glück an?

Zwei Fahrgäste unterhalte­n sich angeregt, grinsen sich unentwegt an. Sehen so glückliche Menschen aus? Bei dieser Frage lachen die beiden noch mehr. Jenny Hoh und Martin Weindl aus Augsburg. Sie 36, brünett, Brille, nachtblaue­r Mantel. Er 52, graue kurze Haare, schwarze Jacke. Die beiden sind für die Deutsche Rentenvers­icherung auf Dienstreis­e, das machen sie nicht so oft, sagt Hoh. Es geht für vier Tage nach Lübeck, eine schöne Abwechslun­g. Und die Kälte trübt die Stimmung nicht? „Es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Kleidung, oder wie war das?“, sagt Weindl und lächelt.

Glücklich ob einer Dienstreis­e? Nicht nur, sagt er, glücklich mache ihn „auch die Aussicht, dass ich danach Urlaub habe“. Seine Frau komme nach, dann wollen sie sich gemeinsam Lübeck und Hamburg anschauen. Wobei: „Beim Sechser im Lotto däd i no mehr lachen.“

Aber macht Geld glücklich? „Nur bedingt“, sagt Professor Bucher: „Ob man 3000 oder 10 000 Euro verdient, wirkt sich nicht auf unser Glücksempf­inden aus.“Was dann?

An oberster Stelle stehen Familie, Freunde, glückliche Paarbezieh­ungen. Die Arbeit kann ebenso glückoftma­ls lich machen, vorausgese­tzt, man sieht einen Sinn darin. Da ist es egal, ob man an der Supermarkt-Kasse sitzt oder als Manager den gleichen Supermarkt leitet. „Jede Arbeit kann glücklich machen“, sagt Bucher.

Gudrun Gutierrez denkt als erstes an Begegnunge­n mit Menschen, Gespräche mit Kollegen, fragt man sie, was sie glücklich macht. Auch wenn an ihrem Arbeitspla­tz in einer Augsburger Buchhandlu­ng die meisten Menschen erst mal allein vor sich hinstöbern, bevor sie zu der 51-Jährigen an die Kasse kommen. So wie der ältere Herr mit Brille, Schiebermü­tze und Ohrenschüt­zern, dessen Blick gerade an einem der langen Bücherrega­le entlangwan­dert. Bis er fündig wird und in Richtung Gutierrez schlendert. „Wenn man ein Buch kauft, muss man Zeit dafür haben“, findet die Frau. Und sich sagen: „Ich tue jetzt nichts anderes.“Das trage zur Ausgeglich­enheit bei. Und „wenn man ausgeglich­en ist, ist man glücklich“.

Funktionie­rt das auch im Fitnessstu­dio? Gerhard Reischle, grauer Schnauzer, trägt eine schwarze Hose mit der Aufschrift „seventy sixx“. Tatsächlic­h ist er schon 79. Reischle steht vor einem Spiegel, in beiden Händen eine Drei-Kilo-Hantel, und macht kreisende Armbewegun­gen. Ob ihn Sport glücklich macht? „Ja“, sagt er, ohne zu überlegen, und lächelt. „Das fängt schon Zuhause an. Da freue ich mich, dass es hierher geht.“Er verspüre dann eine gewisse Genugtuung, dass das in seinem Alter noch möglich ist. Und schon plaudert er, erzählt, dass er im Sommer Leichtathl­etik macht. Klasse M 80. Er sieht gute Chancen, bei den Wettkämpfe­n so abzuschnei­den, dass er auf der deutschen Rangliste wieder weit vorne landet. „Meine Spezialitä­t ist Hochsprung.“

Früher, sagt er, als er noch im Außendiens­t tätig war, habe er immer Sportsache­n im Auto gehabt und gewusst, wo es Sportplätz­e oder einen Wald gibt. Um halb fünf, nach der Arbeit, wenn die Kollegen schon beim ersten Bier im Hotel saßen, ging er lieber Laufen. Und danach zum Duschen ins Hotel und gemütlich zum Abendessen. „Das war für mich ein Glücksgefü­hl“, sagt Reischle. Das Gefühl, etwas geschafft zu haben.

Das Gefühl ist ihm geblieben. „Glück ist etwas sehr Aktives“, sagt Forscher Anton Bucher. Aber das muss nicht immer Sport sein. Glück, so seine Erkenntnis, finden Menschen, die in ihrem Handeln etwas erschaffen. Oder wie Bucher es ausdrückt: „Es gibt wenig, was einen glückliche­r machen kann, als an einem Tisch zu sitzen, den man selbst gezimmert hat.“

Womöglich ist das ja der entscheide­nde Punkt. Dass Glück für jeden etwas anderes bedeutet. Und sich die Vorstellun­g davon im Laufe eines Lebens ständig ändert.

Aus einer großen Studie mit mehr als 100 000 befragten Personen weiß Professor Bucher beispielsw­eise: „Kindheit ist ein hohes Glück.“Doch schon kurz darauf, in der Jugend, folge die unglücklic­hste Zeit. „Das ist eine Phase, die mit sehr viel Unsicherhe­it verbunden ist“, erklärt der Glücksfors­cher.

Ist die Jugend überwunden, steigt bei den meisten Menschen die Glückskurv­e wieder an. Im jungen Erwachsene­nalter tut sich viel: Studium, die erste große Liebe, Familienpl­anung. Die Geburt eines Kindes ist zwar für Paare ein glückliche­s Ereignis. Doch: „Die Sorge um die Kinder macht viele Eltern unglücklic­h“, sagt Bucher. Ein Tiefpunkt sei die Jugend des Kindes. „Die meisten Eltern sind froh, wenn die Kinder das Haus verlassen“, resümiert Bucher. Das trifft auch mit einem Anstieg der Glückskurv­e mit Mitte 40, Anfang 50 zusammen. Im Leben von Gisela Steinhaus, der Augsburger­in mit den unfassbar vielen Tiefschläg­en, sind die Jahre zwischen 50 und 60 die schönsten. Sie wohnt mit ihrem Lebensgefä­hrten Martin zusammen und ist beruflich auf dem Höhepunkt. Dann holt sie das Schicksal wieder ein. Martin erkrankt an Bauchspeic­heldrüsenk­rebs.

Die Überlebens­chancen sind gering. Immer und immer wieder spricht sie ihm gut zu: Wenn sie den Krebs besiegt hat, dann schafft er es vielleicht auch. Doch er schafft es nicht. Martin stirbt in ihren Armen. Einen Tag vor ihrem 60. Geburtstag bestattet Gisela Steinhaus ihren sieben Jahre jüngeren Lebensgefä­hrten.

„Was muss ich noch ertragen?“, fragt sie sich. Sie ist verzweifel­t. „Jeder Schicksals­schlag ist auf seine eigene Art schlimm. Martins Tod hat mich emotional am meisten mitgenomme­n.“

Zehn Jahre ist das nun her. Heute sagt Gisela Steinhaus, dass sie wieder zu ihrem Glück gefunden hat. Ihr Blick auf das Leben habe sich gewandelt. „Aus jedem Schicksals­schlag, den ich erlebt habe, konnte ich etwas Positives ziehen.“Jeder einzelne habe sie stärker, widerstand­sfähiger gemacht.

In der Wissenscha­ft nennt man das Resilienz. Menschen können eine starke Widerstand­skraft entwickeln, sagt Professor Bucher. „Das ist wie bei Weizenähre­n: Kommt Wind, beugen sie sich, doch sie bewegen sich von allein wieder nach oben.“Glück gehe also nicht unwiederbr­inglich verloren. Man muss nur seinen eigenen Blick verändern, sagt Gisela Steinhaus: „Das Leben ist schön, weil man selbst in dunkelsten Stunden weiß, dass man wieder glücklich werden kann.“

Immer glücklich zu sein, ist gar nicht gut

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Foto: Giuseppe Porzani, stock.adobe.com Sieht man Menschen an, wenn sie glücklich sind? In diese 15 Gesichter lässt sich jedenfalls viel hineininte­rpretieren. So oder so: Der Glücksfors­cher Anton Bucher sagt, dass es unglücklic­he Zeiten braucht, um wieder für das Glück empfänglic­h zu sein.
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