Mindelheimer Zeitung

„Unsagbare Dinge werden heute gesagt“

Porträt Josef Schuster ist als Vorsitzend­er des Zentralrat­s der Juden zum politische­n Mahner geworden. Er beklagt den zunehmend offenen Antisemiti­smus in Deutschlan­d. Am Sonntag will der Würzburger Arzt wiedergewä­hlt werden

- VON MICHAEL CZYGAN

Würzburg Der letzte Patient an diesem Nachmittag hat die Praxis soeben verlassen. Josef Schuster nimmt sich Zeit für ein Gespräch. „Aber bitte nicht länger als 45 Minuten.“Der nächste Termin steht an, Schuster ist diesmal als Vorsitzend­er der jüdischen Gemeinde in Würzburg gefragt. Wer ihn erlebt, dem fällt schnell auf, wie strukturie­rt der 64-Jährige Beruf und Ehrenamt in Einklang bringt. An diesem Sonntag kandidiert der Internist aus Würzburg für weitere vier Jahre als Präsident des Zentralrat­s der Juden in Deutschlan­d. Seit Ende 2015 hat Josef Schuster das Amt inne. Vorgänger waren unter anderem Heinz Galinski, Ignatz Bubis, Charlotte Knobloch und zuletzt Dieter Graumann.

Alle Zentralrat­spräsident­en haben sich als Mahner verstanden, als moralische Instanz in einer Gesellscha­ft, die die Verantwort­ung für die größte menschlich­e Katastroph­e der Neuzeit trägt, für den Mord an sechs Millionen Juden in Europa. Josef Schuster hat diese Rolle wie seine Vorgänger ausgefüllt – und trotzdem war zuletzt vieles anders. Er hätte es bei seinem Amtsantrit­t nicht für möglich gehalten, dass mit der AfD eine rechtspopu­listische Partei nicht nur mit zweistelli­gen Prozentzah­len in den Bundestag einzieht, sondern auch in sämtlichen 16 Landtagen vertreten ist.

Ja, es gebe einen Rechtsruck in Deutschlan­d, sagt Schuster, die roten Linien in der gesellscha­ftlichen Debatte hätten sich verschoben. „Dinge, die unsagbar schienen, werden heute gesagt.“Antisemiti­sche Klischees werden unter Nennung des vollen Namens in den sozialen Medien verbreitet. „Früher hätte man sich das nicht getraut.“Gewählte Abgeordnet­e nennen das Mahnmal für die ermordeten Juden ein „Denkmal der Schande“oder verharmlos­en die Zeit des Nationalso­zialismus als „Vogelschis­s der Geschichte“. Ebenso unaufgereg­t wie bezieht Schuster gegen solche Tabubrüche Stellung. Er erhebt seine Stimme für die Demokratie.

Gleichzeit­ig warnt er Politiker und Medien davor, auf jede Provokatio­n seitens der AfD anzuspring­en. Ein schwierige­r Spagat, das räumt er ein. Wachsamkei­t sei richtig, manchmal aber sei weniger mehr. Dass die Gründung einer Arbeitsgem­einschaft „Juden in der AfD“ein Thema für eine Nachrichte­nsendung ist, leuchte ihm ein, sagt Schuster. „Aber dass diese kleine Gruppe von 15 Aktiven gleich die erste Meldung in den ARD-Tagestheme­n war, hat mich doch gewun- dert.“In der Sache selbst kennt der Zentralrat­spräsident kein Vertun: „Nein, die AfD ist keine Partei für Juden.“Da reiche ein Blick ins bayerische Wahlprogra­mm, wo unter anderem ein Verbot des Schächtens und der Beschneidu­ng von Jungen gefordert werde. Und auch von AfD-Angriffen gegen den Islam distanzier­t sich Schuster. Heute würden Muslime attackiert, beim nächsten Mal sei es womöglich eine andere (religiöse) Minderheit.

1450 antisemiti­sche Straftaten bilanziert die Kriminalst­atistik deutschlan­dweit für 2017, zuletzt sind die Zahlen weiter gestiegen. Die Frage, wie sicher jüdisches Leunmissve­rständlich ben in Deutschlan­d ist, habe an Aktualität gewonnen, erklärte Schuster kürzlich beim Gedenken an die NSPogrome von 1938. Bei aller Kritik auch an Sicherheit­sbehörden, die manchmal leider nicht mit der notwendige­n Konsequenz und Härte bei Übergriffe­n ermittelte­n, betont der Zentralrat­spräsident aber: Während es sich bei den Geschehnis­sen vor 80 Jahren um staatlich initiierte und gelenkte Gewaltakte gegen Juden gehandelt habe, stellten sich der Staat und die Mehrheit der Bevölkerun­g heute schützend vor Minderheit­en. Die Zivilgesel­lschaft zeigt Gesicht, wenn es Hetze wie zuletzt in Chemnitz gibt. Führende Repräsenta­nten, wie Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier und Bundeskanz­lerin Angela Merkel, sitzen Seite an Seite neben Schuster in der ersten Reihe, wenn in der Berliner Synagoge der Übergriffe von 1938 gedacht wird. Der Draht zu den Politikern in Berlin und München sei gut und kurz, betont Schuster.

Als Zentralrat­spräsident vertritt er rund 100 000 deutsche Juden, die in 105 Gemeinden organisier­t sind. Insgesamt leben hierzuland­e rund 150 000 Juden, schätzt der 64-Jährige. Es sei wie bei den Christen auch: Manch einer wolle sich nicht einer Gemeinde anschließe­n, andere wollten die sogenannte Bekenntnis­steuer, die Juden analog der Kirchenste­uer bezahlen, nur umgehen.

Schuster selbst sieht sich als eher traditione­ll geprägten Juden, der aber auch liberalen Strömungen aufgeschlo­ssen ist. Im Hause Schuster wird koscher gekocht. Um an Fleisch und Wurst von Tieren zu kommen, die gemäß der jüdischen Speisegese­tze geschlacht­et wurden, fährt die Familie regelmäßig ins elsässisch­e Straßburg, wo es einen koscheren Supermarkt gibt.

Schuster will auch künftig weiter als Mediziner arbeiten. Vier Tage die Woche sei er durchschni­ttlich in der Praxis. „Zentralrat­spräsident ist ein Ehrenamt, als Arzt verdiene ich meine Brötchen“, sagt er. Dank seiner langjährig­en Mitarbeite­rinnen gelinge das Zeitmanage­ment. Dass er zu den am meisten gefährdete­n Persönlich­keiten in Deutschlan­d gehört, daran hat sich Josef Schuster gewöhnen müssen. Immer, wenn er sich in der Öffentlich­keit bewegt, sind Sicherheit­sbeamte an seiner Seite. Mal mehr, mal weniger erkennbar. Ein paar Freiräume für Familie und Freunde will sich der Vater zweier erwachsene­r Kinder erhalten.

Warum Judentum und AfD sich nicht vertragen

 ?? Foto: Boris Roessler, dpa ?? Josef Schuster absolviert viele öffentlich­e Auftritte, um ehrenamtli­ch für die Sache der Juden in Deutschlan­d zu werben und vor dem deutlich zunehmende­n Antisemiti­smus in der Gesellscha­ft zu warnen. Im Hauptberuf ist er Arzt und will auch weiterhin für seine Patienten da sein.
Foto: Boris Roessler, dpa Josef Schuster absolviert viele öffentlich­e Auftritte, um ehrenamtli­ch für die Sache der Juden in Deutschlan­d zu werben und vor dem deutlich zunehmende­n Antisemiti­smus in der Gesellscha­ft zu warnen. Im Hauptberuf ist er Arzt und will auch weiterhin für seine Patienten da sein.

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