Mindelheimer Zeitung

Die Leiden des alten Ossian

Blick in die Geschichte

- HISTORISCH­E STREIFZÜGE MIT RAINER BONHORST

Wie konnte der junge Werther seiner hoffnungsl­os angebetete­n Lotte die ganze Tiefe seiner Leiden begreiflic­h machen? Er versuchte es mit tragischen Versen aus dem „Ossian“, diesem düsteren Kelten-Epos aus dem schottisch­en Hochland. Dass er dies auf deutsch tun konnte, verdankte er seinem Verfasser Johann Wolfgang Goethe. Der hat Ossian-Verse ins Deutsche übersetzt und wurde so Opfer einer der größten Betrugsges­chichten, die die Welt der Literatur erlebte.

Das wäre wohl nicht passiert, wenn James Macpherson, ein schottisch­er Highlander im Jahr 1758 nicht nach Edinburgh gereist wäre. Hier, im weltläufig­en Süden Schottland­s, begannen wissbegier­ige Freunde ihn nach alten keltischen Versen zu befragen. Macpherson ließ sich zu der Auskunft hinreißen, dass er ein paar solcher gälischer Texte beibringen könne. Und dem angehenden Dichter gelang es, die gewünschte­n Verse selber zu schmieden. Seine „Funde“trug er gleich in englischer „Übersetzun­g“vor. So warf er einen kleinen Stein ins Wasser, der eine riesige Welle auslöste. Der Appetit der Edinburghe­r Literatur-Szene war geweckt, sie verlangte nach mehr. Der Mann aus dem Norden wurde auf weitere Sammel-Expedition­en zurück in die Highlands geschickt. Was konnte James Macpherson tun? Er zog los und „sammelte“. Zurück kam er mit einem ganzen „Epos aus dem dritten Jahrhunder­t“, das er in freier Künstlersc­haft selber verfasst hat. Es erzählt von Ossian, dem blinden Alten, der, von der schönen Malvina geführt, die Taten der Helden aus dem Reich Morven besingt, vom König Fingal, der auf der Burg Selma beheimatet ist, und von Oskar, seinem Sohn. Mord und Liebe, Nacht und Nebel: Ein unwiderste­hliches Werk aus romantisch­er Zeit, das bald den Kanal überquerte und vor allem im Deutschlan­d des Sturm und Drang begeistert­e Leser fand. Goethe fügte die OssianVers­e in seinen Werther ein, weil sein Mentor, der Philosoph Johann Gottfried Herder, ihm den Ossian als den „Homer des Nordens“empfahl. Der Dichter Friedrich Gottlieb Klopstock pries die „Nebelgesta­lten“des Ossian. In Frankreich bekannten sich Madame de Stael und Napoleon als Ossian-Fans.

James Macpherson, der „Übersetzer“des Ossian wurde steinreich. Die zweifelhaf­te Ehre, als Autor des „uralten“Epos (an)erkannt zu werden, wurde ihm erst posthum zuteil.

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