Mindelheimer Zeitung

Wie das Juden-Morden anfing

Holocaust Vor Schülern der Berufsschu­le Mindelheim erzählt der Überlebend­e Abba Naor von den Gräueltate­n in seinem Heimatland Litauen. Die netten Nachbarn wurden zu Mördern

- VON JOHANN STOLL

Mindelheim 250 000 Juden lebten 1940 in Litauen. Es war ein friedliche­s Miteinande­r von Polen, Russen, Deutschen, Sinti, Roma und Litauern. Dazu kamen 60 000 jüdische Kinder. Fünf Jahre später, am Ende des Zweiten Weltkriegs, waren es noch 10 000 erwachsene Juden oder vier Prozent. Alle anderen sind erschossen, totgeprüge­lt oder an Mangelernä­hrung in Ghettos oder Konzentrat­ionslagern ums Leben gekommen. Gerade einmal 350 Kinder haben das Morden in dem kleinen Land an der Ostsee überlebt.

Einer von ihnen war Abba Naor. In Kaunas kam er zur Welt als Sohn eines Offiziers der litauische­n Armee. Heute ist er 91 Jahre alt und einer der wenigen Holocaust-Überlebend­en, die jungen Menschen vom Genozid aus eigenem Erleben noch berichten können oder wollen. Die meiste Zeit im Jahr lebt Naor in Israel. Für drei Monate bricht er jedes Jahr auf nach Europa, um jungen Menschen seine Geschichte zu erzählen. Es ist die Geschichte unvorstell­barer Unmenschli­chkeit, die Naor, seine Familie und sein Volk ertragen mussten. Vor allem junge Leute will der Überlebend­e erreichen, damit sich eine solche Tragödie nie mehr wiederholt.

Der Fachbereic­hsleiter Sozialkund­e der Berufsschu­le Mindelheim hat Naor vor zwei Jahren gehört. Jetzt hat er es geschafft, Naor nach Mindelheim zu holen, wo er vor Schülern der Berufsschu­le sprach. Naor ist ein Mensch, der Zuhörer vom ersten Satz an in seinen Bann zieht. Die meiste Zeit lachen die Leute, sagt er. „Und sie haben Grund zu lachen.“Sie leben in einem freien Land, sie dürfen in die Schule. Er hatte dieses Glück nicht.

Es war wunderschö­n zu leben in Litauen. Abba Naor erlebte bis zum Jahr 1941 eine glückliche Kindheit. „Wir lebten mit allen anderen gut zusammen, ohne Probleme.“Litauen war kein reiches Land, aber es reichte zu einem bescheiden­en Leben für alle.

Dann überfiel 1940 die Sowjetunio­n das Land. Schon ein paar Jah- vorher hatten die Nationalso­zialisten 1933 die Macht in Deutschlan­d an sich gerissen. Zwei Diktatoren - einer mit großem, einer mit kleinem Schnurrbar­t - sollten Millionen jüdischer Menschen den Tod bringen.

Die Menschen in dem kleinen katholisch­en Land suchten nach Schuldigen für den Einmarsch der Sowjets. Sie fanden sie in den Juden. Die Nachbarn, mit denen sie zuvor Tür an Tür gut zusammenge­lebt hatten, trieben die Juden in Kaunas zusammen, erschlugen sie, erschossen sie. Das war noch lange bevor die Nazis 1942 auf der sogenannte­n Wannsee-Konferenz die „Endlösung der Judenfrage“, also die systematis­che Ermordung der Juden in Konzentrat­ionslagern wie Auschwitz beschlosse­n hatten. Wo hat der Holocaust angefangen? In Litauen. Heute gehört das Land zu Europa. Litauer sind gleichbere­chtigte Bürger Europas, sagt Naor. Aber bis heute seien sie nicht im Stande die Verbrechen zuzugeben, die Litauer an den Juden verübt haben. Und von Entschädig­ung für die konfiszier­ten Wertsachen könne auch keine Rede sein.

Es ist mucksmäusc­henstill, als Abba Naor von den zwei JudenGhett­os in Kaunas erzählt. 3500 Männer, Frauen und Kinder wurden in eine Festung „umgesiedel­t“. Dort wurden sie umgebracht. Auch sein älterer Bruder war unter den Mordopfern. Und es wurde fast noch stiller, als Naor die Kopie eines handgeschr­iebenen Zettels von SS-Standarten­führer Karl Jäger zeigte. Auf ihm waren Anfang 1942 akribisch die Zahlen der Ermordeten aufgeliste­t: 138 272 Juden, davon 55 556 Frauen und 34 464 Kinder. Kleine Kinder wurden nicht einmal erschossen, sagre te Naor. Sie wurden bei lebendigem Leibe in die Grube geworfen. 1,5 Millionen Kinder wurden in Europa umgebracht, nur weil sie jüdisch waren.

Die wenigen Überlebend­en haben kaum noch gesprochen. 1944 wurden dann bei einer Razzia alle Kinder aus den Häusern geholt. Ukrainer erledigten das Mordgeschä­ft.

Mitläufer in ganz Europa machten sich schuldig. Naor nennt Frankreich mit General Petain, den bulgarisch­en König. Und sogar Holländer machten mit und meldeten der Gestapo für den Preis eines Kaffees, wo sich ein Jude versteckt hielt. Selbst von 1000 norwegisch­en Juden überlebten nur 80. Und Schweizer Banken machten gute Geschäfte mit den Goldzähnen der Ermordeten.

Am 20. Juli 1944 versuchte Claus Schenk Graf von Stauffenbe­rg, Hitler zu töten. Das Attentat schlug fehl. Für Abba Naor hatte das ganz persönlich­e Folgen. Sechs Tage später wurden seine Mutter und sein jüngerer Bruder im KZ Auschwitz vergast. 1944 wurde Naor von einem KZ bei Danzig nach Bayern verlegt. Er musste in Utting, Allach und Kaufering im Arbeitslag­er schuften. Es waren die KZ-Außenlager von Dachau, wo allein in zehn Monaten 22 000 Menschen „durch Arbeit vernichtet wurden“. Als die Amerikaner näher rückten, wurden die Lager geräumt. In Todesmärsc­hen trieb die SS die Häftlinge Richtung Tölz. Völlig ausgemerge­lt traf Naor auf die amerikanis­chen Soldaten. Es gab ganz selten auch Menschen, die sich den Verbrechen entgegenge­setzt haben. Naor erinnerte an einen Feldwebel Anton Schmid. Er rettete Hunderten das Leben und bezahlte für seine Menschlich­keit mit dem eigenen Leben. Und auch bei Utting erlebte Naor etwas Menschlich­keit. Eine Bäckerin und ihre Tochter steckten den Häftlingen jeden Tag heimlich Backwaren zu. „Leider gab es zu wenige von diesen Menschen.“

Kleine Kinder wurden bei lebendigem Leibe in die Grube geworfen

 ?? Foto: Stoll ?? Der Holocaust-Überlebend­e Abba Naor berichtete in der Berufsschu­le Mindelheim über seine Erlebnisse während der Zeit des Nationalso­zialismus und der Sowjetherr­schaft. Organisier­t hatte den Besuch der Fachbetreu­er Sozialkund­e, Ferdinand Wilhelm (rechts).
Foto: Stoll Der Holocaust-Überlebend­e Abba Naor berichtete in der Berufsschu­le Mindelheim über seine Erlebnisse während der Zeit des Nationalso­zialismus und der Sowjetherr­schaft. Organisier­t hatte den Besuch der Fachbetreu­er Sozialkund­e, Ferdinand Wilhelm (rechts).

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