Ein Winter voller Unsicherheiten
Vor 100 Jahren prägte die Revolution das Land – das war auch in Mindelheim und Umgebung zu spüren. Ein Blick in die Archive zeigt, was damals in unserer Region geschah
Mindelheim Einen runden Geburtstag feiert Bayern in diesem Jahr: „Bayern ist fortan ein Freistaat“, verkündete Kurt Eisner im November 1918. Es waren bewegte Zeiten, damals vor 100 Jahren, vor allem in der Landeshauptstadt. In unserer Region standen ebenfalls Veränderungen an, wenn auch nicht ganz so heftig: „Was in München teils mit Waffengewalt durchgesetzt wurde, ist in Mindelheim friedlich verlaufen“, sagt Heimatmuseumsleiter Markus Fischer. Gemeinsam mit Stadtarchivar Andreas Steigerwald hat er für die Leser der Mindelheimer Zeitung einen Blick in die Archive geworfen.
Eine gute Zusammenfassung und Grundlage bietet auch das Buch „Mindelheim im 20. Jahrhundert“von Dr. Berndt Michael Linker: Blutige Auseinandersetzungen wie in München gab es im Bezirk Mindelheim nicht, schreibt dieser darin. Dennoch kam eine Mindelheimerin im Zuge der Revolution ums Leben: Emma Einhauser, die Schwester des früheren Mindelheimer Stadtkaplans, starb mit ihrem Dienstmädchen im MG-Feuer am Münchner Bahnhofsplatz. „Sie ist wohl zwischen die Fronten geraten“, glaubt Markus Fischer heute. „Ich weiß nicht, ob wir uns vorstellen können, was geschehen muss, dass man nach über vier Jahren gemeinsam durchstandenem Krieg in der Heimat aufeinander schießt. Das war Revolution.“
In Mindelheim ging es deutlich friedlicher zu. Noch Anfang November 1918, als sich ein Ende des Krieges abzeichnete, ging der Routinebetrieb des Landsturm-Infanterie-Bataillons in Mindelheim weiter: Hier wurden Rekruten gemustert und ausgehoben, schreibt Linker. An Allerheiligen spielte die Bataillonskapelle zu Ehren der gefallenen Krieger noch stimmungsvolle Weisen. Wenige Tage später erreichte die Nachricht von revolutionären Umtrieben auch Mindelheim. Was am 4. November bei der Marine in Kiel begann, breitete sich wie ein Lauffeuer über das Land hinweg aus und erreichte schon am 7. November München, wo Kurt Eisner die Umtriebe anführte. Sein Ziel: „den Krieg beenden und die Monarchie stürzen“, fasst Markus Fischer zusammen. Arbeiter- und Soldatenräte wurden eingesetzt, im ländlichen Bereich ergänzt durch die Bauern – kurz: ASBR.
Den Anfang machte in Mindelheim der Gerichtsassistent Epple, der im Gasthaus Mohren (heute Schuhgeschäft Nertinger) vorschlug, einen Soldatenrat zu bilden. Nach positiven Reaktionen hielt er auf dem Marktplatz eine revolutionäre Rede, schreibt Linker. Da genügend Soldaten vor Ort waren, konnte ein Soldatenrat gegründet werden. Die Mindelheimer Arbeiterschaft wählte ihren Arbeiterrat. Dieser hatte sein Büro in der Rechbergstraße 137a, der Bauernrat seinen Sitz in der Westernacher Straße. Bei den Bauern jedoch, schreibt Linker, musste noch Überzeugungsarbeit geleistet werden. Manche ernannten sich selbst zum Rat, andere hingegen wurden plötzlich per „Du bisch jetzt Baurerat“in ihr Amt befördert. Für die Bauern in der Umgebung gab es Aufklärungsversammlungen in Dirlewang, Kirchheim und Türkheim. Ende November schlossen sich die Räte der Arbeiter, Soldaten und Bauern zusammen. Die Räte, so erklärt Markus Fischer, versuchten die Ordnung und die Wirtschaft aufrechtzuerhalten. So gab es etwa Kommissionen für die Versorgung mit Brennholz, Kohle und Lebensmittel, ergänzt Stadtarchivar Steigerwald. Der Magistrat aus Bürgermeister und Stadträten öffnete sich für die neuen Räte, „zähneknirschend, aber sie konnten nicht viel tun“, sagt Steigerwald. Auch die Presse wird überwacht und unter die Vorzensur des Arbeiter- und Soldatenrates gestellt, schreibt Linker.
Wohin driftet die Stadt? Das Land? Das war unklar in diesen Zeiten. Nur so viel war sicher: „Alte Kommunalpolitik, die der Monarchie diente, war nicht mehr angesagt“, erklärt Fischer. In den Magis- tratsprotokollen von 1918 und 1919 ist übrigens nichts zu einer Revolution oder Ähnlichem überliefert – sondern, wie Fischer sagt, nur „business as usual“.
Wie die Mindelheimer Bevölkerung auf die ganze Entwicklung reagiert hat, ist nicht überliefert. „Ich vermute, dass die Leute es einfach hingenommen haben“, sagt Fischer. „Es wusste ja niemand, wohin die Reise geht.“Immerhin sei die Versorgungslage hier ja wesentlich besser gewesen als in einer Großstadt. Und eine Kommission zu haben, welche die Vorräte aufteilt, sei ja grundsätzlich nichts Schlechtes. In Mindelheim waren die Gastwirtschaften die zentrale Stelle für die Ausgabe von Lebensmitteln. Mehl etwa gab es beim Gasthaus Glocke, dem heutigen Toscana Due.
Die drei Bataillone des Mindelheimer Landsturms wurden in Mindelheim und Nassenbeuren aufgelöst – und so campierten die Soldaten
Eine Mindelheimerin starb am Münchner Bahnhof
Das Tanzen war nun nicht mehr verboten
im Winter 1918/19 mit ihren Waffen auf den Straßen. Zuvor hatte es in den Mindelheimer Gasthäusern und bei Privatleuten auch noch Truppenbelegungen gegeben. „Es gab noch Löhnungen, vielfach auch in Form von Sattelzeug und Bekleidung, diese aber waren nicht besonders hoch.“Die Bevölkerung habe die Soldaten dennoch gerne aufgenommen, sagt Fischer.
Um die heimkehrenden Soldaten kümmerte sich auch der ASBR: Wie Linker in seinem Buch berichtet, rief er zu Spenden auf, die an Soldaten, Kriegsinvaliden und -witwen gingen. Das Landsturm-InfanterieErsatzbataillon verabschiedete sich im Februar 1919 mit einer Feier und Tanz im Colleg – denn das war nun nicht mehr verboten.
Nach viereinhalb Jahren Krieg kehrte das Leben in Mindelheim und Umgebung bald wieder in normalere Bahnen zurück. Tanzen war wieder erlaubt, die Vereine hielten ihre Jahresversammlungen ab – wenn auch mit weniger Mitgliedern als vor dem Krieg.