Am Ende bleibt Theresa May im Amt
200 konservative Abgeordnete sprachen der Parteichefin gestern Abend das Vertrauen aus, 117 Parlamentarier wollten sie stürzen. Die Brexit-Krise aber ist nicht zu Ende
London Theresa May bleibt Premierministerin Großbritanniens. Die Konservative hat gestern Abend das Misstrauensvotum mit einer Mehrheit von 83 Stimmen gewonnen – oder vielmehr überstanden? Auch wenn ihr 200 konservative Parlamentarier in London das Vertrauen aussprachen, von einem Triumph wollte gestern nach einem abermals dramatischen Tag niemand reden. Zu groß ist die politische Krise, die auf der Insel herrscht.
Aufatmen konnte May dennoch. Sie benötigte zwar lediglich die Stimmen von mindestens 159 Abgeordneten der Tories. Ein allzu knapper Sieg aber hätte die Position der angezählten Regierungschefin noch weiter geschwächt oder Rufe nach einem Rücktritt laut werden lassen. Und Erinnerungen geweckt. Die „Eiserne Lady“, Margaret Thatcher, gab im November 1990 freiwillig ihr Amt auf, um europaskeptischen Meuterern zuvorzukommen.
May aber reagierte kurz nach Bekanntwerden des Misstrauensvotums mit einer Kampfansage: „Ich werde mich mit allem, was ich habe, gegen dieses Votum wehren“, sagte die Regierungschefin vor der berühmten schwarzen Tür mit der Nummer zehn. Abermals warnte sie davor, dass im Fall ihrer Niederlage der Brexit verzögert oder sogar ganz ausgesetzt werden könnte. Einem Nachfolger fehle schlichtweg die Zeit, um eine Rücktrittsvereinbarung neu auszuhandeln und die Gesetzgebung bis zum 29. März durch das Parlament zu bringen. Dann scheidet das Land offiziell aus der Gemeinschaft aus.
Die Brextremisten in der konservativen Partei wollten ihre Vorsitzende mit der Misstrauensabstimmung stürzen, weil sie den zwischen London und Brüssel vereinbarten Brexit-Deal strikt ablehnen. Insbesondere der Backstop, eine Garantie für eine offene Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland, hat sich mittlerweile zur Glaubensfrage auf der Insel entwickelt. Glühende Brexit-Anhänger fürchten, dass Großbritannien durch die im Austrittsvertrag vorgesehene Notfalllösung auf Dauer an die Gemeinschaft gekettet bleibe. „Die Tories im Bürgerkrieg“, nannten Kommentatoren den Streit bei den Konservativen, die sich gerade auf offener Bühne selbst zerfleischen. Und damit auch das Land in Geiselhaft nehmen, wie Kritiker monierten.
Während der Fragestunde gestern im Parlament grölten sich die May-Loyalisten ihre Kehlen heiser, um ihre Unterstützung auszudrü- cken, zudem tingelten Minister durch die Fernsehstudios und warben für ihre Chefin. Würde das ausreichen, um Unentschlossene zu überzeugen? May wollte kein Risiko eingehen und wandte sich kurz vor dem Start des Votums am Abend persönlich an die Abgeordneten. Ungewohnt emotional versicherte die von allen Seiten bedrängte Regierungschefin den Zweiflern, die Partei nicht in die nächste Wahl 2022 führen zu wollen. Bis heute haben es die Tories ihrer Vorsitzenden nicht verziehen, dass sie nach einem miserablen Wahlkampf 2017 die absolute Mehrheit verloren hat. Seitdem führt sie die Minderheitsregierung mit Duldung der nordirischen Unionistenpartei DUP.
Noch bevor die Entscheidung am Mittwoch Abend gefallen war, wurde auf den Fluren des WestminsterPalasts bereits mit Namen möglicher Nachfolger gehandelt. Es ging zu wie auf dem Basar, obwohl der Löwe noch brüllte. Wer könnte May beerben? Die Partei ist wie die Bevölkerung in der Europa-Frage tief gespalten, und es bleibt fraglich, ob sich die Fraktion in naher Zukunft hinter einem Kandidaten versammeln könnte. Die Hinterbänkler fordern einen Brexit-Gläubigen in Downing Street. Als aussichtsreiche Kandidaten für einen innerparteilichen Wettbewerb gelten der ExBrexit-Minister Dominic Raab, der Ex-Außenminister Boris Johnson oder Innenminister Sajid Javid.
Etliche Abgeordnete dagegen dürften für May gestimmt haben aus Sorge, dass ein Brexit-Hardliner übernehmen und das Land am Ende ohne Abkommen aus der Gemeinschaft scheiden könnte. Ein NoDeal-Szenario aber lehnt der Großteil des Parlaments ab. Gleichzeitig findet sich derzeit auch keine Mehrheit für den vereinbarten Deal. Um eine krachende Niederlage zu vermeiden, hatte May am Montag das Votum über den Kompromiss abgesagt. Unmittelbar danach brach sie zu einer Charme-Offensive in Richtung Kontinent auf, doch die EU hatte dieselbe Botschaft, die sie seit Wochen auf allen Kanälen übermittelt: Man werde das Vertragspaket nicht noch einmal aufschnüren.
Derweil stiegen die Wut und Frustration in London über May, die das Parlament ausbootete und so den Misstrauensantrag provozierte. Mindestens 48 Abgeordnete und damit 15 Prozent der konservativen Parlamentarier hatten schriftlich einen Letter of No Confidence beim zuständigen Komitee eingereicht. Nun, da die Premierministerin das Votum gewonnen hat, kann sie für zwölf Monate nicht mehr herausgefordert werden, zumindest nicht von ihrer eigenen Partei. Ein Ausweg aus der Brexit-Krise ist jedoch nach dem gestrigen Tag genauso wenig absehbar wie Anfang dieser Woche.