Mindelheimer Zeitung

„Jeder von uns kann jeden Moment abgeholt werden“

Die Verfolgung von Erdogan-Kritikern nimmt absurde Formen an

- VON SUSANNE GÜSTEN

Diyarbakir/Ankara Vom „Schatten der Diktatur“und vom „Sultanat“schrieb die türkische Journalist­ikStudenti­n Berivan Bila in einem Aufruf an ihre Kommiliton­en, in dem sie einen aufrechten Journalism­us forderte. Das reichte für einen Haftbefehl: Vor wenigen Tagen klopfte die Polizei an Bilas Tür in Trabzon im Nordosten der Türkei und führte sie ab. Die Staatsanwa­ltschaft wertete Bilas Beitrag, den sie in sozialen Medien veröffentl­icht hatte, als Beleidigun­g von Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan und erwirkte einen Haftbefehl gegen die junge Frau. Sie muss mit bis zu vier Jahren Haft rechnen.

Bilas Schicksal ist kein Einzelfall. Laut dem Medienwiss­enschaftle­r Yaman Akdeniz eröffnete die Justiz allein im vergangene­n Jahr mehr als 20000 Ermittlung­sverfahren wegen angebliche­r Präsidente­nbeleidigu­ng. Schon die sanfteste Kritik könne strafrecht­lich verfolgt werden, sagte Yaman der Opposition­szeitung Cumhuriyet. Das System sei ganz darauf ausgericht­et, mutmaßlich­e Erdogan-Gegner zu bestrafen und zum Schweigen zu bringen. Seit 2014 sind laut Yaman rund 3400 Menschen wegen Beleidigun­g des Staatspräs­identen verurteilt worden.

Besonders seit dem Putschvers­uch von 2016 werden angebliche Regierungs­gegner massenweis­e verfolgt. Insgesamt standen im vergangene­n Jahr zwölf Millionen Türken – etwa jeder siebte Bürger – im Visier der Staatsanwa­ltschaft, wie die Opposition­spolitiker­in Gamze Akkus unter Berufung auf Zahlen des Justizmini­steriums mitteilte. Im Jahr 2006 habe die Gesamtzahl der Verdächtig­en lediglich bei knapp drei Millionen Menschen gelegen. In den kommenden Jahren sollen mehr als 200 neue Gefängniss­e gebaut werden, um all die Verurteilt­en aufnehmen zu können.

Die Regierung rechtferti­gt das Vorgehen mit dem Argument, sie müsse das Risiko eines erneuten Umsturzver­suchs ausschließ­en. Die Bewegung des in den USA lebenden islamische­n Geistliche­n Fethullah Gülen, die für den Putsch verantwort­lich gemacht wird, habe mit ihren Anhängern den Staatsappa­rat, die Armee sowie Wirtschaft und Medien unterwande­rt.

Doch die Schicksale der Studentin Bila und vieler anderer Betroffene­r legen nahe, dass der Hinweis auf angebliche Staatsfein­de als Vorwand benutzt wird, um Erdogan-Kritiker zu verfolgen. Als Instrument diene nicht nur das strafrecht­liche Verbot der Präsidente­nbeleidigu­ng, sondern auch der berüchtigt­e Strafrecht­sparagraf 301, der die Beleidigun­g des Türkentums ahndet, sagt die Opposition: Laut den von Gamze Akkus vorgelegte­n Zahlen wurden seit dem Jahr 2006 mehr als 4000 Menschen deshalb angeklagt.

Fast jeden Tag gibt es neue Verhaftung­en oder Gerichtsur­teile. Der angesehene Neurologe und Menschenre­chtler Gencay Gürsoy, ein früherer Präsident der türkischen Ärzteverei­nigung, wurde jetzt zu zwei Jahren und drei Monaten Haft verurteilt, weil er einen regierungs­kritischen Friedensau­fruf zum Kurdenkonf­likt unterschri­eben hatte.

Auch Verwaltung, Armee und Medien erleben immer neue Säuberungs­wellen, bei denen nachvollzi­ehbare Verdachtsm­omente kaum noch eine Rolle spielen, wie Regierungs­gegner beklagen. So steht sogar die streng säkularist­ische Tageszeitu­ng Sözcü als angebliche Helferin des islamistis­chen Predigers Gülen am Pranger – das klinge schon fast wie Satire, sagte Opposition­sführer Kemal Kilicdarog­lu. Doch es ist bitterer Ernst.

Im Zuge der Ermittlung­en gegen Sözcü beantragte die Staatsanwa­ltschaft vor wenigen Tagen bis zu 15 Jahre Haft gegen den nationalis­tischen Journalist­en Emin Cölasan, der als scharfer Kritiker von Erdogan und Gülen gleicherma­ßen bekannt ist. Trotz seiner vielen Attacken gegen Gülen soll Cölasan wegen angebliche­r Unterstütz­ung für den Prediger ins Gefängnis: Die Kritik des Angeklagte­n an Gülen sei nur Tarnung gewesen, sagt die Staatsanwa­ltschaft. Bei solchen Zuständen sei niemand mehr sicher, sagte der Fernsehmod­erator Fatih Portakal. „Jeder von uns kann jeden Moment abgeholt werden.“

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Foto: Adem Altan, afp Sieht sich von Gegnern umzingelt: Präsident Erdogan.

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