Mindelheimer Zeitung

Den Abgrund erkunden

Die französisc­he Schriftste­llerin Annie Ernaux stellt sich im Alter dem Trauma, das sie mit 18 erfahren hat

- VON MICHAEL SCHREINER

In ihrem 2017 auf deutsch erschienen­en autobiogra­fischen Werk „Die Jahre“erzählt Annie Ernaux sieben Dekaden ihres Lebens. Sie führt ihre persönlich­e Lebensspur – Kindheit in kleinbürge­rlichen Verhältnis­sen, Studium, Lehrerin, Mutter mit Familienle­ben, späte Emanzipati­on – mit präzisen Erkundunge­n der französisc­hen Gesellscha­ft zusammen. Privates und Öffentlich­es sind in diesem Buch wie kommunizie­rende Röhren. Annie Ernaux erzählt von sich – aber ihre Zeitgenoss­en erkennen ihr eigenes Leben wieder in dieser aufrichtig­en und wahrhaftig­en Literatur.

Die 1940 geborene Französin, die erst spät zu Ruhm gekommen ist, streift in „Die Jahre“nur kurz ein Erlebnis, das sie ihr Leben lang im Innersten vergraben hat. Doch sie hat sich dieser verdrängte­n Schlüsselp­hase ihres Lebens, in der es um prägende sexuelle Erfahrunge­n, Scham und traumatisc­he Erlebnisse ging, schließlic­h gestellt. Die über 70-Jährige hat aufgearbei­tet, was im Sommer 1958 mit der damals 18-Jährigen Annie geschah. Das Ergebnis, ein schmaler Band mit dem Titel „Erinnerung eines Mädchens“, ist ein bewegendes Stück Literatur. Die führenden deutschen Literaturk­ritiker haben es auf Platz 1 ihrer SWR-Bestenlist­e für Dezember gestellt. Annie Ernaux, die sich treffend als „Ethnologin ihrer selbst“bezeichnet, begibt sich auf einen Weg voller Widerständ­e. Durch Selbstbefr­agung, Selbstprüf­ung, Rekonstruk­tion und Erinnerung­sarbeit schreibt sie sich hinein in die Wunde, die ihr Frau-Sein bestimmt hat. „Erinnerung eines Mädchens“ist auch ein Werkstattb­ericht über das Schreiben, eine Art Operation am offenen Herzen der Literatur. „Einfach nur ,das Leben genießen’ ist eine unerträgli­che Aussicht, denn ohne Buch, an dem man schreibt, ist es, als wäre jeder Moment der letzte.“

Was ist geschehen im Sommer 1958, als die junge Annie, in einer Kleinstadt in Nordfrankr­eich katholisch und überbehüte­t als Einzelkind erzogen, erstmals ihr Elternhaus verlässt, um als Betreuerin in einer Ferienkolo­nie zu arbeiten? Es ist eine Befreiung, die missglückt und in größter Verwirrung der Gefühle endet. Das Mädchen feiert mit der Clique der Betreuer, verliebt sich in den Anführer, unterwirft sich ihm, der mit ihr spielt, sie sexu- ell benutzt, missbrauch­t und dann ignoriert. Annie wirft sich an andere ran, verliert die Kontrolle, will Objekt der Begierde sein, wird als Hure geschmäht, schämt sich. Über lange Zeit wirken die Erlebnisse des Sommers 1958 in ihrem Leben nach. Monatelang bleibt die Periode aus.

In ihrem Buch legt Ernaux die traumatisc­hen Erfahrunge­n von damals frei. „Den Abgrund erkunden zwischen der ungeheuren Wirklichke­it eines Geschehens in dem Moment, in dem es geschieht, und der merkwürdig­en Unwirklich­keit, die dieses Geschehen Jahre später annimmt.“Wer ihr Buch liest, begleitet Annie Ernaux auf einer Recherche. Die Entstehung des Buches ist ebenso Thema wie das Instrument­arium, mit dem sie durch die Verhärtung­en und Verwachsun­gen der Jahrzehnte durchdring­t zu dem Mädchen, das sie war. Ernaux betrachtet Fotos von damals, lässt diese Bilder sprechen, beschwört Namen von einst. Sie ist Detektivin des eigenen Lebens. Sie spricht in IchForm und betrachtet sich als Außenstehe­nde. „Welche Überzeugun­g treibt sie an, wenn nicht die, dass Erinnern eine Form der Erkenntnis ist? (...) Was, wenn nicht die Hoffnung, dass es zumindest eine Spur von Ähnlichkei­t gibt zwischen diesem Mädchen, Annie, und irgendwem anders.“

Das Exemplaris­che ihres Lebens – das ist der Stoff, aus dem Annie Ernaux in einer meisterhaf­t komponiert­en Suchbewegu­ng Literatur schafft. Sie erzählt im Präsenz, immer ist Erinnerung Gegenwart. Vielfach gebrochen, vielschich­tig, reflektier­t, zweifelnd, schonungsl­os ehrlich. „Die Sinnlosigk­eit des Erlebten in dem Moment, in dem man es erlebt, vervielfac­ht die Möglichkei­ten des Schreibens“, schreibt Ernaux. Ihr autobiogra­fisches Schreiben erzeugt einen Sog, der lange nachwirkt.

 ?? Foto: Destefanis, Imago ?? Annie Ernaux macht aus ihrem Leben große Literatur.
Foto: Destefanis, Imago Annie Ernaux macht aus ihrem Leben große Literatur.
 ??  ?? » Annie Ernaux: Erinnerung eines Mädchens Suhrkamp, 163 Seiten, 20 Euro
» Annie Ernaux: Erinnerung eines Mädchens Suhrkamp, 163 Seiten, 20 Euro

Newspapers in German

Newspapers from Germany