Am Anfang stand die Futternot
Seit 125 Jahren kümmert sich die Allgäuer Herdebuchgesellschaft um Gesundheit und Vermarktung der Tiere. Ziel ist nicht die „Turbo-Kuh“, sondern eine lange Nutzungsdauer
Kempten Da ist dieser für NichtLandwirte etwas seltsam klingende Name: Herdebuchgesellschaft. „Das heißt nichts anderes, als dass alle Tiere der Züchter in einem Zuchtbuch registriert sind“, erklärt Dr. Franz Birkenmaier, Zuchtleiter der Allgäuer Herdebuchgesellschaft (AHG). Vor 125 Jahren ist diese Organisation in Kempten gegründet worden. Heute gehören ihr etwa 4000 Mitglieder an, darunter 2500 aktive Landwirte. Der Viehbestand der AHG beträgt 90000 Milchkühe, überwiegend Braunvieh, und 20000 Tiere anderer Rassen wie Fleckvieh oder Holsteiner. 6000 Jungtiere werden pro Jahr vermarktet, die Hälfte davon geht in den Export, momentan viel nach Nordafrika.
Am 15. November 1893 war die Allgäuer Herdebuchgesellschaft durch die fünf Viehzuchtgenossenschaften Kempten, Obergünzburg, Wolfertschwenden, Seltmans und Sonthofen sowie den beiden Einzelzüchtern Josef Widmann (Weitnau) und Franz Xaver Furtenbach (Pfronten) in Kempten gegründet worden. Erster Sitz der Gesellschaft war Immenstadt.
Die Milchwirtschaft war Ende des 19. Jahrhunderts im Allgäu stark aufgekommen. Damals war die Sicherstellung der Ernährung der Bevölkerung eines der vordringlichsten Ziele. In der seinerzeit nicht organisierten Tierzucht war Futter knapp, weil sie in Konkurrenz zur Haltung von Milchkühen und der Jungviehaufzucht stand. Der leistungsstarke Braunviehschlag drohte zu ver- schwinden. Diese Gefahr wollte die neue Herdebuchgesellschaft entschärfen.
In der Folge wählte die AHG sorgfältig Tiere aus, die sich aufgrund ihrer Eigenschaften gut für die Zucht eigneten. Es gab auch Einkreuzungen mit Stieren aus der Schweiz. Die Gesellschaft pachtete und kaufte sogar Alpen und organisierte jedes Jahr für die Sommermonate den Transport der Tiere aus dem Unterland mit dem Zug nach Oberstdorf. Um die Jahrhundertwende führte die AHG die Milchleistungsprüfung ein.
Die Mitgliederzahl stieg ständig. Und so wurde 1919 in Kaufbeuren eine Zweigstelle errichtet. Regelmäßig veranstaltete die AHG Tierschauen. Die Vermarktung der AHG-Betriebe erfolgte über Viehmärkte in Sonthofen, Immenstadt, Oberstaufen und bei Viehscheiden in Oberstdorf und Hindelang.
1928 wurde in Kempten die Tierzuchthalle gebaut mit einem Zuschauerraum für 1000 Gäste bei den Auktionen. Seit jenem Jahr steht auch der Stier „Roman“– eine lebensgroße Steinfigur des Künstlers Ludwig Eberle aus Grönenbach – als Sinnbild für die Tierzucht vor der Halle. 1937 verlegte die AHG ihren Hauptsitz nach Kempten. Die Landwirtschaft und insbesondere die Milchhaltung haben in den vergangenen 125 Jahren einen gewaltigen Wandel hinter sich. Ein Beispiel ist der technische Fortschritt, zum Beispiel beim Melken – von der Handmelkmethode zu heutigen Melkrobotern. Ein markanter Schritt in der Geschichte der AHG war laut Birkenmaier nach dem Zweiten Welt- krieg die Einführung der sogenannten Zuchtwertschätzung. Diese Methode war erstmals EDV-basiert, wobei nun bis zu 60 Zuchtwerte erfasst wurden: Euter- und Klauengesundheit, Verdaulichkeit des Futters, Milchmenge, Eiweißgehalt der Milch und so weiter. Letzterer war vor allem für die Käsereien wichtig.
Heute, im genomischen Zeitalter, werden bei den Tieren bis zu 56000 Merkmale untersucht. Stimmen bei Stieren die Daten, werden diese Bullen an die Besamungsstationen nach Memmingen und Greifenberg am Ammersee verkauft. Geschah diese genetische Untersuchung bisher nur bei Bullen, werden nun mit dem Programm „Braunvieh-Vision“auch 25 000 weibliche Tiere typisiert.
„Unser Ziel ist es, keine TurboKuh zu züchten“, sagt Birkenmaier, also nicht nur auf die Milchleistung zu schauen. Wichtig ist der AHG auch, dass die Nutzungsdauer der Tiere lang ist. Die liegt beim Braunvieh derzeit bei gut sechs Jahren. Eine Braunvieh-Kuh bringt auch mit im Schnitt vier Kälbern ein Kalb mehr zur Welt als andere Rassen.
Nach 125 Jahren stehen bei der AHG erneut Veränderungen an: Eine gravierende ist, die Viehauktionen nicht mehr in der Kemptener Allgäuhalle zu veranstalten, sondern dafür bis 2022 eine eigene Anlage bei Unterthingau (Ostallgäu) zu bauen. Das hat vor allem mit den Verkehrsproblemen in Kempten zu tun. Die Schließung der Schwabenhalle in Buchloe, wo die AHG ebenfalls regelmäßig Auktionen macht, steht dagegen laut AHG-Vorsitzendem Norbert Meggle nicht zur Disposition.