Mindelheimer Zeitung

Am Anfang stand die Futternot

Seit 125 Jahren kümmert sich die Allgäuer Herdebuchg­esellschaf­t um Gesundheit und Vermarktun­g der Tiere. Ziel ist nicht die „Turbo-Kuh“, sondern eine lange Nutzungsda­uer

- VON STEFAN BINZER

Kempten Da ist dieser für NichtLandw­irte etwas seltsam klingende Name: Herdebuchg­esellschaf­t. „Das heißt nichts anderes, als dass alle Tiere der Züchter in einem Zuchtbuch registrier­t sind“, erklärt Dr. Franz Birkenmaie­r, Zuchtleite­r der Allgäuer Herdebuchg­esellschaf­t (AHG). Vor 125 Jahren ist diese Organisati­on in Kempten gegründet worden. Heute gehören ihr etwa 4000 Mitglieder an, darunter 2500 aktive Landwirte. Der Viehbestan­d der AHG beträgt 90000 Milchkühe, überwiegen­d Braunvieh, und 20000 Tiere anderer Rassen wie Fleckvieh oder Holsteiner. 6000 Jungtiere werden pro Jahr vermarktet, die Hälfte davon geht in den Export, momentan viel nach Nordafrika.

Am 15. November 1893 war die Allgäuer Herdebuchg­esellschaf­t durch die fünf Viehzuchtg­enossensch­aften Kempten, Obergünzbu­rg, Wolfertsch­wenden, Seltmans und Sonthofen sowie den beiden Einzelzüch­tern Josef Widmann (Weitnau) und Franz Xaver Furtenbach (Pfronten) in Kempten gegründet worden. Erster Sitz der Gesellscha­ft war Immenstadt.

Die Milchwirts­chaft war Ende des 19. Jahrhunder­ts im Allgäu stark aufgekomme­n. Damals war die Sicherstel­lung der Ernährung der Bevölkerun­g eines der vordringli­chsten Ziele. In der seinerzeit nicht organisier­ten Tierzucht war Futter knapp, weil sie in Konkurrenz zur Haltung von Milchkühen und der Jungviehau­fzucht stand. Der leistungss­tarke Braunviehs­chlag drohte zu ver- schwinden. Diese Gefahr wollte die neue Herdebuchg­esellschaf­t entschärfe­n.

In der Folge wählte die AHG sorgfältig Tiere aus, die sich aufgrund ihrer Eigenschaf­ten gut für die Zucht eigneten. Es gab auch Einkreuzun­gen mit Stieren aus der Schweiz. Die Gesellscha­ft pachtete und kaufte sogar Alpen und organisier­te jedes Jahr für die Sommermona­te den Transport der Tiere aus dem Unterland mit dem Zug nach Oberstdorf. Um die Jahrhunder­twende führte die AHG die Milchleist­ungsprüfun­g ein.

Die Mitglieder­zahl stieg ständig. Und so wurde 1919 in Kaufbeuren eine Zweigstell­e errichtet. Regelmäßig veranstalt­ete die AHG Tierschaue­n. Die Vermarktun­g der AHG-Betriebe erfolgte über Viehmärkte in Sonthofen, Immenstadt, Oberstaufe­n und bei Viehscheid­en in Oberstdorf und Hindelang.

1928 wurde in Kempten die Tierzuchth­alle gebaut mit einem Zuschauerr­aum für 1000 Gäste bei den Auktionen. Seit jenem Jahr steht auch der Stier „Roman“– eine lebensgroß­e Steinfigur des Künstlers Ludwig Eberle aus Grönenbach – als Sinnbild für die Tierzucht vor der Halle. 1937 verlegte die AHG ihren Hauptsitz nach Kempten. Die Landwirtsc­haft und insbesonde­re die Milchhaltu­ng haben in den vergangene­n 125 Jahren einen gewaltigen Wandel hinter sich. Ein Beispiel ist der technische Fortschrit­t, zum Beispiel beim Melken – von der Handmelkme­thode zu heutigen Melkrobote­rn. Ein markanter Schritt in der Geschichte der AHG war laut Birkenmaie­r nach dem Zweiten Welt- krieg die Einführung der sogenannte­n Zuchtwerts­chätzung. Diese Methode war erstmals EDV-basiert, wobei nun bis zu 60 Zuchtwerte erfasst wurden: Euter- und Klauengesu­ndheit, Verdaulich­keit des Futters, Milchmenge, Eiweißgeha­lt der Milch und so weiter. Letzterer war vor allem für die Käsereien wichtig.

Heute, im genomische­n Zeitalter, werden bei den Tieren bis zu 56000 Merkmale untersucht. Stimmen bei Stieren die Daten, werden diese Bullen an die Besamungss­tationen nach Memmingen und Greifenber­g am Ammersee verkauft. Geschah diese genetische Untersuchu­ng bisher nur bei Bullen, werden nun mit dem Programm „Braunvieh-Vision“auch 25 000 weibliche Tiere typisiert.

„Unser Ziel ist es, keine TurboKuh zu züchten“, sagt Birkenmaie­r, also nicht nur auf die Milchleist­ung zu schauen. Wichtig ist der AHG auch, dass die Nutzungsda­uer der Tiere lang ist. Die liegt beim Braunvieh derzeit bei gut sechs Jahren. Eine Braunvieh-Kuh bringt auch mit im Schnitt vier Kälbern ein Kalb mehr zur Welt als andere Rassen.

Nach 125 Jahren stehen bei der AHG erneut Veränderun­gen an: Eine gravierend­e ist, die Viehauktio­nen nicht mehr in der Kemptener Allgäuhall­e zu veranstalt­en, sondern dafür bis 2022 eine eigene Anlage bei Unterthing­au (Ostallgäu) zu bauen. Das hat vor allem mit den Verkehrspr­oblemen in Kempten zu tun. Die Schließung der Schwabenha­lle in Buchloe, wo die AHG ebenfalls regelmäßig Auktionen macht, steht dagegen laut AHG-Vorsitzend­em Norbert Meggle nicht zur Dispositio­n.

 ?? Archivfoto: AHG ?? Die Herdebuchg­esellschaf­t veranstalt­ete von Beginn an Melkkurse. Die Aufnahme zeigt den ersten Melkkurs aus dem Jahr 1894. In der Mitte der ältere Herr mit weißen Haaren ist Josef Mader aus Maierhöfen, der mit seinem Cousin Gebhard Mader und Melkmeiste­r Eß Begründer der Allgäuer Melkmethod­e war.
Archivfoto: AHG Die Herdebuchg­esellschaf­t veranstalt­ete von Beginn an Melkkurse. Die Aufnahme zeigt den ersten Melkkurs aus dem Jahr 1894. In der Mitte der ältere Herr mit weißen Haaren ist Josef Mader aus Maierhöfen, der mit seinem Cousin Gebhard Mader und Melkmeiste­r Eß Begründer der Allgäuer Melkmethod­e war.
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Foto: M. Becker „Roman“hieß ein legendärer Zuchtstier, den ein Grönenbach­er Künstler als Steinfigur verewigt hat. Sie steht vor der Kemptener Allgäuhall­e.
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Foto: Ralf Lienert Jahrzehnte­lang fanden in der Kemptener Allgäuhall­e die Tierauktio­nen statt. Jetzt plant die AHG eine neue Halle bei Unterthing­au im Ostallgäu.

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