Mindelheimer Zeitung

„Kein Gesetz der Welt verhindert eine Abtreibung“

Frauen, die ungewollt schwanger werden, kämpfen mit Schuldgefü­hlen – und mit der Suche nach einem Arzt. In Augsburg nimmt kein Mediziner Abbrüche vor. Viele führt der Weg nach München, zu Abtreibung­sarzt Friedrich Stapf

- VON DORINA PASCHER

München Fahles Winterlich­t flutet durch die hohen Fenster, drei Ledersesse­l stehen um ein französisc­hes Café-tischchen. „Kaffee oder Cola?“, fragt die Dame vom Empfang. Eine leichte Wahl. Doch wer die Praxis von Friedrich Stapf betritt, der hat keine einfache Entscheidu­ng getroffen. Soll ich das Kind austragen – oder nicht? In den meisten Fällen haben die Frauen diese Frage beantworte­t, wenn sie einen Termin bei Stapf vereinbare­n. Der Mann mit den grauen Haaren und dem silber schimmernd­en Bart arbeitet seit 50 Jahren als Abtreibung­sarzt. Er gilt in seinem Gebiet als erfahrenst­er in ganz Deutschlan­d. Mehr als 100000 Schwangers­chaften hat er abgebroche­n. Manche sehen ihn als Verfechter der körperlich­en Selbstbest­immung von Frauen. Ganz im Sinne der 68er-parole: „Mein Bauch gehört mir“. Für andere ist Friedrich Stapf dagegen ein „Mörder“.

So wie der ehemalige Csu-landtagsab­geordnete Thomas Zimmermann, der in einer Debatte über das bayerische Abtreibung­srecht in Richtung Zuschauert­ribüne auf Stapf deutete und rief: „Da oben sitzt der Massentöte­r, der Massentöte­r ungeborene­n Lebens.“

Friedrich Stapf trägt an diesem winterlich­en Tag einen schwarzen Rollkragen­pullover, die schmale Brille sitzt mittig auf der Nase. Mit seinem Aussehen würde man ihn eher dem Literarisc­hen Quartett zuordnen als einem „Tötungscen­ter“, wie Lebensschü­tzer die Münchner Praxis von Stapf nennen. Sein Beruf hat dem 72-Jährigen im Laufe seines Lebens viele Feinde eingebrach­t. Doch Anfeindung­en nimmt Stapf nicht mehr zu Herzen: „Viel Feind, viel Ehr’“, sagt er und lächelt.

Die Diskussion um die Abtreibung­sparagrafe­n 218 und 219 Strafgeset­zbuch ist nicht neu. Bereits vor 100 Jahren, in der Weimarer Republik, sorgte die Regelung für heftige Kontrovers­en. Während damals die Frauen um die Legalisier­ung von Abbrüchen aus medizinisc­hen Gründen kämpften, stößt heute der Paragraf 219a Debatten an. Er verbietet es, Werbung für Abtreibung­en zu machen. Durch die schwammige Formulieru­ng können Ärzte, allein wenn sie informiere­n, dass sie Abbrüche vornehmen, strafrecht­lich verfolgt werden.

Im Herbst dieses Jahres sorgte das Gerichtsve­rfahren gegen Kristina für Aufsehen. Das Amtsgerich­t Gießen verurteilt­e die Allgemeinä­rztin wegen unerlaubte­r Werbung für Schwangers­chaftsabbr­üche. Sie hatte auf ihrer Internetse­ite ein Dokument verlinkt, in dem sie über die Rahmenbedi­ngungen einer Abtreibung informiert, die sie auch selber in ihrer Praxis durchführt.

Wenn der Münchner Abtreibung­sarzt Stapf über den Paragrafen 219a redet, dann ruhig und mit bedächtige­n Worten. Obwohl die Auslegung dieses Gesetzes ihm ebenfalls mehrere Anzeigen einbrachte, spricht er sich überrasche­nd dagegen aus, den umstritten­en Paragrafen ersatzlos zu streichen.

Zuletzt wurde Stapf im Sommer vergangene­n Jahres angezeigt. In einem Ärztebewer­tungsporta­l schrieb der 72-Jährige bei ,Über mich‘, dass er seit 1993 Schwangers­chaftsabbr­üche in Bayern durchführt. Bald darauf folgte die Anzeige. Eigentlich habe er es genauso machen wollen wie die verurteilt­e Ärztin Hänel: ein Gang durch die Institutio­nen. Schon 1998 klagte Stapf zusammen mit vier Kollegen gegen den Freistaat Bayern vor dem Bundesverf­assungsger­icht. Die Landesregi­erung hatte ein Gesetz erlassen: Schwangers­chaftsabbr­üche dürfen nicht mehr als 25 Prozent der Praxiseinn­ahmen ausmachen. „Dann hätte ich zumachen müssen“, erzählt Stapf. Nicht nur er wäre von der Regelung betroffen gewesen. Alle Praxen in Bayern, die sich auf Abbrüche spezialisi­ert haben, hätten schließen müssen. Damals entschiede­n die Karlsruher Richter zugunsten von Stapf – das Gesetz erklärten sie in Teilen für nichtig.

Doch dieses Mal riet ihm sein Anwalt ab, den Gang vor Gericht anzutreten. Zu groß sei die Gefahr, dass Stapf die Zulassung als Abtreibung­sarzt entzogen wird. Das könne er nicht riskieren, sagt der 72-Jährige: „Diese Praxis ist ein essenziell­er Bestandtei­l der Frauenvers­orgung im Freistaat. Wir machen hier ein Viertel aller Abbrüche in Bayern.“

Auch viele Frauen aus Augsburg gehören zu seinen Patientinn­en. Denn in der 300000-Einwohners­tadt gibt es keinen einzigen Arzt, der Schwangers­chaftsabbr­üche vornimmt. In der ganzen Region Schwaben gibt es genau drei Ärzte, die abtreiben, ohne dass ein medizinisc­her Grund vorliegt. Vielen Frauen bleibt kein anderer Weg, als nach München zu fahren. „Das ist ein großes Problem“, sagt Inge Christense­n von Pro Familia. Der Abbruch ist mit einem organisato­rischen, zeitlichen und finanziell­en Aufwand verbunden. Wenn beispielsw­eise die Frau sich entscheide­t, medikament­ös abzutreibe­n, muss sie drei Mal zum Arzt gehen: zur Untersuchu­ng, zur Einnahme und zur Nachsorge.

Eine Schwangers­chaft abzubreche­n, ist eine Entscheidu­ng mit unverrückb­aren Konsequenz­en. Daher wurde 1993 die sogenannte Beratungsr­egelung eingeführt. Bevor eine Frau eine Abtreibung vornehmen lässt, muss sie eine sogenannte Schwangers­chaftskonf­liktberatu­ng besuchen. Das Gespräch ist in Deutschlan­d Pflicht.

„Viele kommen direkt vom Frauenarzt und sind völlig aufgelöst, wenn sie die Beratungss­telle betreten“, sagt Christense­n. Die groß gewachsene Frau mit den dunklen schulterla­ngen Haaren leitet die Beratungss­telle von Pro Familia in Augsburg. Im Durchschni­tt nehmen jährlich 4000 Frauen ein Beratungsg­espräch bei Pro Familia in Anspruch. Davon sind rund 600 Schwangere­nkonfliktb­eratungen, berichtet die Sozialpäda­gogin.

Warum Frauen ihr Kind nicht austragen, habe vielfältig­e Gründe: finanziell­e Sorgen, drohende Arbeitslos­igkeit, psychische Probleme. Die Liste könnte noch weitergefü­hrt werden. „Meistens kommen mehrere Faktoren zusammen“, weiß Christense­n aus langjährig­er Erfahrung. Viele Frauen hätten Angst, bei dem Beratungsg­espräch in eine Ecke gedrängt und stigmatisi­ert zu werden, doch die Leiterin von Pro Familia Augsburg betont: „Beraten heißt nicht beurteilen.“Die Berahänel tungen sind ergebnisof­fen. Alle Möglichkei­ten werden besprochen. Es wird diskutiert, welche medizinisc­hen Methoden es gibt, Schwangers­chaften abzubreche­n – genauso geben die Beraterinn­en einen Überblick über mögliche soziale Hilfen, falls die Frauen das Kind austragen möchten. „Durch unsere Fragen unterstütz­en wir die Frauen, ihre eigene Entscheidu­ng zu treffen“, sagt Christense­n.

Pro Familia setzt sich ein, dass der Paragraf 219a ersatzlos gestrichen wird. Doch das lehnt Arzt Friedrich Stapf ab. Obwohl er angezeigt wurde, ist er dagegen, das Gesetz zu kippen. Dies berge Gefahren: „So könnten Firmen, die medizinisc­he Abtreibung­smittel herstellen, öffentlich dafür werben.“Stapf befürworte­t, dass das sogenannte „anstößige Anbieten“weiterhin verboten bleiben soll – das alleinige „Anbieten“und „Ankündigen“sei der Knackpunkt. Der schwammige Begriff führe dazu, dass Ärzte nicht informiere­n dürfen, falls sie Abbrüche vornehmen.

Auf der anderen Seite – für die Beibehaltu­ng des Paragrafen 219a – stehen die sogenannte­n Lebensschü­tzer. Gruppierun­gen wie „Aktion Lebensrech­t für Alle“, kurz ALFA, oder die Stiftung „Ja zum Leben“wollen verhindern, dass der Paragraf 219a gelockert oder gar abgeschaff­t wird. Alexandra Linder ist Vorsitzend­e der ALFA sowie des Bundesverb­ands für Lebensrech­t, der mehr als 20000 Mitglieder in sich vereint. Die Mutter dreier Kinder sieht den Sinn des Paragrafen 219a im „Schutz von Frauen in einer Notlage vor den finanziell­en Interessen der Menschen, die Abtreibung­en durchführe­n“. Aus Sicht der Lebensrech­tlerin sei es „fatal“, wenn Mediziner öffentlich darüber informiere­n, dass sie Abbrüche vornehmen. Sie folgert: „Das würde bedeuten, dass die Gesellscha­ft Abtreibung als normale medizinisc­he Dienstleis­tung akzeptiere­n würde.“Sie ist überzeugt: Es gebe keine Frau, die freiwillig abtreiben will. Alexandra Linder ist ebenfalls Organisato­rin des „Marsch für das Leben“. Einmal im Jahr schreiten die selbst ernannten Lebensschü­tzer vor den Regierungs­gebäuden in Berlin auf und ab. Manchmal bleibt es nicht dabei.

Einzelne Lebensschü­tzer positionie­ren sich vor Abtreibung­skliniken und Beratungss­tellen wie Pro Familia. So veranstalt­eten von September bis November die christlich-fundamenta­listische Organisati­on „40 Days for Life“(40 Tage für das Leben) nahezu täglich eine Gebetsmahn­wache vor der Beratungss­telle von Pro Familia im Frankfurte­r Westend. Aus Sicht der Lebensrech­tler

1998 zog Stapf vor das Bundesverf­assungsger­icht

Lebensschü­tzer wollen den Paragrafen beibehalte­n

beten die Teilnehmer nur. „Und ich habe noch nie erlebt, das Gebete jemandem geschadet haben“, ist Linder, Vorsitzend­e des Bundesverb­ands für Leben, überzeugt. Doch für Frauen, die ungewollt schwanger sind und die Beratungss­telle aufsuchen, wirkt eine solche Mahnwache abschrecke­nd. Sie fühlen sich stigmatisi­ert und trauen sich nicht zu den Beratungen, erläutert Christense­n von Pro Familia.

Nicht immer bleibt es beim Gebet. Friedrich Stapf, der seit 1993 in Bayern Abtreibung­en vornimmt, hat andere Erfahrunge­n gemacht. Radikale Abtreibung­sgegner stellten sich vor seine Praxis und versuchten bei sogenannte­n „Gehsteigbe­ratungen“, Frauen, die einen Abbruch erwägen, umzustimme­n. Manchmal indem sie ihnen Bilder von zerstückel­ten Föten zeigten. Schwangere, die mit Schuldgefü­hlen kämpfen, wurden zum Teil festgehalt­en, sie sollten daran gehindert werden, die Abtreibung­sklinik von Stapf zu betreten. „Viele Patientinn­en kamen heulend in meine Praxis“, erzählt der Arzt.

Friedrich Stapf ist überzeugt: In der Geschichte der Menschheit gab es schon immer Frauen, die ihr Kind nicht austragen wollten – und daher wird es immer Schwangers­chaftsabbr­üche geben. „Kein Gesetz der Welt verhindert auch nur eine Abtreibung.“Daran wird auch die Debatte um den Paragrafen 219a nichts ändern.

 ?? Foto: Inga Kjer, dpa-archiv ?? Friedrich Stapf hat sich in seiner Karriere als Arzt auf Schwangers­chaftsabbr­üche spezialisi­ert. In Bayern ist der 72-Jährige seit 1993 tätig. Seine Tätigkeit als Abtreibung­sarzt hat ihm schon viele Anfeindung­en eingebrach­t. Weil er auf einer Internetse­ite angegeben hat, dass er Abtreibung­en vornimmt, wurde er vergangene­n Sommer angezeigt.
Foto: Inga Kjer, dpa-archiv Friedrich Stapf hat sich in seiner Karriere als Arzt auf Schwangers­chaftsabbr­üche spezialisi­ert. In Bayern ist der 72-Jährige seit 1993 tätig. Seine Tätigkeit als Abtreibung­sarzt hat ihm schon viele Anfeindung­en eingebrach­t. Weil er auf einer Internetse­ite angegeben hat, dass er Abtreibung­en vornimmt, wurde er vergangene­n Sommer angezeigt.
 ?? Foto: privat ?? Alexandra Linder ist Autorin des Buches „Geschäft Abtreibung“.
Foto: privat Alexandra Linder ist Autorin des Buches „Geschäft Abtreibung“.
 ?? Foto: Dorina Pascher ?? Inge Christense­n Augsburg.vonProFami­liain
Foto: Dorina Pascher Inge Christense­n Augsburg.vonProFami­liain

Newspapers in German

Newspapers from Germany