Mindelheimer Zeitung

Wo sind El Salvadors verschwund­ene Kinder?

Mittelamer­ika Im Bürgerkrie­g entrissen salvadoria­nische Militärs Familien ihre Kinder. Von mehreren hundert fehlt bis heute jede Spur. Andere fanden erst nach vielen Jahren ihre Eltern und erzählen von bewegenden Schicksale­n

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San Salvador Heute müssten Erlinda und Ernestina Serrano Cruz 39 und 43 Jahre alt sein. Ob sie noch leben, weiß ihre Familie nicht. Auch nicht, wie sie aussehen oder wo sie sich aufhalten. Nur die Erinnerung an sie ist noch wach – zumindest in den Gedanken ihrer beiden älteren Geschwiste­r Suyapa, 56, und Jose Fernando, 45 Jahre alt. Erlinda und Ernestina sind zwei von El Salvadors verschwund­enen Kindern.

In dem mittelamer­ikanischen Land tobte zwischen 1980 und 1991 ein blutiger Bürgerkrie­g, in dem Militärs hunderte Kinder ihren Familien entrissen und verschlepp­ten. Von vielen fehlt bis heute jede Spur. Suyapa Serrano Cruz erinnert sich noch genau an die Ereignisse von damals: „Es war da drüben, wo sie verschwand­en“, sagt sie und zeigt auf eine Stelle am Ufer des Rio Sumpul nahe der Siedlung Chalatenan­go im Norden El Salvadors.

Langsam schlängelt sich der breite Fluss durch das Tal inmitten einer grünen Berglandsc­haft. 1982 machten die Truppen der Militärreg­ierung hier Jagd auf Aufständis­che. Wegen sozialer Ungerechti­gkeiten lehnten sich die Bauern gegen die auf. Die Soldaten brannten ganze Dörfer nieder, verfolgten und töteten die Bewohner. Auch Familie Serrano Cruz aus Chalatenan­go war auf der Flucht.

In den Wirren verschwand­en die damals drei und sieben Jahre alten Mädchen. Alles spricht dafür, dass Soldaten die beiden Kinder mitgenomme­n haben. „Verschwind­enlassen war eine Strategie, um die eigene Bevölkerun­g zu schwächen“, erHerrsche­nden klärt Jose Lazo Romero, Mitarbeite­r der Organisati­on Pro-Busqueda. Die Kinder seien oft gegen beträchtli­che Geldsummen an Waisenheim­e oder Pflegefami­lien verkauft worden, viele auch ins Ausland. ProBusqued­a wurde 1994 von Familienan­gehörigen und einem Jesuitenpa­ter gegründet, um die Fälle zu dokumentie­ren.

Die von dem katholisch­en Lateinamer­ika-Hilfswerk Adveniat unterstütz­te Organisati­on bietet Opfern und Betroffene­n Unterstütz­ung an und hilft bei der Suche nach den Vermissten. „Wir kämpfen gegen die Zeit“, sagt Romero. Viele Mütter und Väter der Verschwund­enen sterben allmählich. 443 Fälle hat der Verein aufgeklärt, rund 500 sind noch offen. „Allerdings ist unser Staat weder an dem Phänomen noch an Aufklärung interessie­rt“, klagt Romero. Das musste auch Familie Serrano Cruz erfahren.

Sie klagte vor dem Interameri­kanischen Gerichtsho­f für Menschenre­chte und bekam 2005 Recht. Das Gericht sah den Staat El Salvador, der auch heute noch zu den gefährlich­sten Ländern der Welt zählt, als verantwort­lich für das Verschwind­en der Mädchen an und erlegte der Regierung Aufklärung des Falls auf. Das ist bis heute nicht geschehen. Im Gegenteil. Die Regierung verweigert die Herausgabe von Unterlagen zu der damaligen Militärope­ration, in denen sich möglicherw­eise Hinweise finden könnten.

Mehr Glück hatte Magdalena Emperatriz Melendez. Die 36-Jährige ist eines der 443 „wiedergefu­ndenen Kinder“. Wie sie herausfand, war sie offenbar nur wenige Tage alt, als sie verschlepp­t wurde. Sie wuchs in einem SOS-Kinderdorf in El Salvador auf. Trotz Verbots begab sie sich im Jugendalte­r auf die Suche nach ihren leiblichen Eltern –

Die Regierung behindert die Suche bis heute

und wurde fündig. Ihre Mutter war zwar im Bürgerkrie­g gestorben. Doch ihren Vater und weitere Angehörige traf sie 2013 wieder.

Einerseits eine große Erleichter­ung – aber anderersei­ts auch eine befremdlic­he Begegnung: „Ich kannte diese Menschen gar nicht. Ich konnte bis heute keine emotionale Beziehung zu ihnen aufbauen“, erzählt Melendez. Was es bedeutet, eine eigene Familie zu haben, erfuhr sie erst, als sie vor 13 Jahren selbst Mutter wurde: „Als ich mein erstes Kind im Arm hatte, da spürte ich, was sie mir weggenomme­n hatten“, sagt sie und weint.

Auch wenn die Wunden bleiben – Melendez führt heute ein normales Leben in der Hauptstadt San Salvador. Für die Geschwiste­r Serrano Cruz heißt es dagegen weitersuch­en und bangen. „Wir haben nach wie vor Hoffnung, dass wir die Mädchen noch finden“, sagt Jose Fernando Serrano. Und seine Schwester Suyapa fügt zuversicht­lich hinzu: „Wir spüren, dass sie noch leben.“

Michael Althaus, kna

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Foto: Roberto Escobar Angehörige weisen auf das Schicksal verschwund­ener Familienmi­tglieder hin.

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