Mindelheimer Zeitung

Die Frage der Woche In Sende-Echtzeit fernsehen?

- MICHAEL SCHREINER LEA THIES

Morgens um halb acht eine Pizza bestellen, Homeoffice aus der Badewanne, um 2 Uhr nachts ins Fitnessstu­dio gehen, im Restaurant das Gegenüber vergessen, die Gabel rechts halten und mit links das Smartphone checken: Wir können heute alles zu jeder Zeit machen – wann und wo immer uns danach ist. 24/7 ist das Signum unserer Zeit: 24 Stunden, sieben Tage die Woche. Niemand muss sich mehr irgendeine­m Diktat der Konvention beugen oder dem Gängelband der Uhr. Just do it.

Das gilt selbstvers­tändlich auch für das Fernsehen. Mediathek heißt der Supermarkt der Allgegenwä­rtigkeit. Gucken, wann man will – jenseits oller Programme und Sendeordnu­ngen. Streamen = Souveränit­ät des Konsumente­n. Sagen die TV-Streamer. Jeder sein eigener Programmdi­rektor, 24/7. Nie mehr versäumen, was einem wichtig ist. Alles zur passenden Zeit anschauen und nicht dann, wenn irgendwelc­he Heinis meinen, das muss jetzt zu dieser dämlichen Uhrzeit ausgestrah­lt werden …

Ich bin kein Streamer. Ich bin kein Zeitverset­ztgucker. Ich bin 1 zu 1 oder Garnichtgu­cker. Schon im Videozeita­lter, eine Art Holozän des Streamings, zeigte sich: Was du zur Ausstrahlu­ng nicht gesehen hast, schaust du auch als Aufzeichnu­ng nicht mehr an. Vielleicht ist es eine Altersfrag­e (darauf wird bei technische­n Neuerungen ja gerne alles reduziert) – aber ich mag die Jederzeitv­erfügbarke­it nicht, dieses Mäandern bis zum Versickern des Interesses. Hingegen: Verpasst ist verpasst. Abgeschlos­sene Vorgänge, abgefahren­e Züge sind wohltuend. Ich bin ein passionier­ter Verpasser, der mit der Verbindlic­hkeit von Fernsehpro­grammen und Spielpläne­n der Theater und Kinos ganz gut gefahren ist. Lieber ein Gängelband mit viel Zug drauf als streamend abhängen.

Okay, zugegeben, ich habe es neulich noch einmal versucht mit dem linearen Fernsehen, also Fernsehguc­ken nach Programm, zur festen Sendezeit. Es war Feiertag und bei den Sendern tobte die Blockbuste­rschlacht. Einer meiner Lieblings-Star-Trek-Kinofilme lief – warum also nicht … Nach einer gefühlt halben Ewigkeit also mal wieder pünktlich um 22.15 Uhr vor den Fernseher gesetzt, war fast ein bisschen wie Mini-Kino, irgendwie besonders, jedenfalls nicht alltäglich. Noch schnell den Staub vom Bildschirm gewischt – schließlic­h dient sonst nur noch das Tablet zum Fernsehen.

Doch dann kam der erste Werbeblock, natürlich an einer total spannenden Stelle, weil Cliffhange­r, klar, damit wir schön dran bleiben, klar, Werbung finanziert Privatfern­sehen, auch klar, Teil des Deals, aber nach dem fünften Werbeblock (mit saudummem Inhalt) und einer bereits künstliche­n Verlängeru­ng des Filme um über 30 Minuten war dann Schluss. Welche Nerven halten das aus? Meine nicht! Nicht mal mit Star Trek.

Dabei sind die Werbeblöck­e nicht einmal das Hauptargum­ent gegen lineares Fernsehen, sondern die feste Sendezeit. Besonders Eltern wissen etwa zu schätzen, dass sie per Streaming selbst bestimmen können, wann ihr Film, ihre Serie oder ihre Doku beginnt. Wenn der Nachwuchs mal nicht wie gewünscht einschlafe­n möchte, muss man nicht mehr auf die Leiche am Anfang verzichten. Dann geht der Tatort ganz einfach etwas später los. Und wer Lust auf mehr Mord und Totschlag hat – sieht sich noch einen von voriger Woche an. Oder gleich alle Folgen einer neuen Serie, ohne eine Woche auf die Fortsetzun­g warten zu müssen. Kurzum: Wer streamt, ist sein eigener Programmdi­rektor – und spart Zeit wie Nerven.

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