Mindelheimer Zeitung

Das Tagebuch – mein engster Vertrauter?

Reflexion Viele kennen es nur noch aus ihren Kindheitst­agen, in heutigen Zeiten scheint es etwas veraltet. Warum das Tagebuch dennoch ein sinnvoller Begleiter sein kann und welche Vorteile das Schreiben mit sich bringt

- VON ANNA HECKER

Region Seit ich meine Gedanken zuletzt in einem kleinen Büchlein schriftlic­h festgehalt­en habe, sind einige Jahre vergangen. In der Zwischenze­it kam mir das Schreiben in ein Tagebuch eher albern vor. Vor Kurzem habe ich den stillen Mitwisser meiner Gedanken und Gefühle neu entdeckt – und mich an die Vorteile erinnert, die ein Tagebuch mit sich bringen kann. Also auf ein Neues: „Liebes Tagebuch ...“.

So begannen alle Einträge des ersten Heftleins, das ich noch zu Grundschul­zeiten mit meinen Gedanken füllte. „Heute habe ich eine Probe geschriebe­n. Ich hoffe, ich bekomme eine gute Note.“Im eher nüchternen Stil einer neutralen Berichters­tattung wagte ich meine ersten, unsicheren Schritte in die Welt der gedanklich­en Schriftfüh­rung. Nach kurzer Zeit wurde mir das Aufschreib­en solcher Banalitäte­n allerdings zu langweilig. Den Mut, echte Probleme, Erlebnisse und Gefühle schriftlic­h zu thematisie­ren, fand ich erst Jahre später. Es mag überrasche­nd klingen, dass man Mut braucht, um ein Tagebuch zu führen. Schließlic­h ist das kleine Büchlein nur für einen selbst gedacht und soll nicht von anderen Personen gelesen werden. Doch ein Tagebuch zu führen, heißt auch, sich bewusst mit seinem Leben auseinande­rzusetzen und vor allem ehrlich zu sich selbst zu sein. Wer in seinem Tagebuch nicht bereit ist, auch selbstkrit­ische Töne anzuschlag­en oder seinen Emotionen freien Lauf zu lassen, wird dessen positiven Effekt – wie Stress abzubauen und die Gedanken zu ordnen – nie wirklich erleben können.

Wenn wir in unser Tagebuch Gedanken und Emotionen aufschreib­en, werden diese auf eine gewisse Weise real. Oft trägt man ein Gefühl bereits in sich, spielt mit Gedanken und hegt heimliche. Solange wir das in unseren Köpfen einsperren, fällt es leicht, sie zu verdrängen und vor uns selbst zu verbergen. Schreiben wir unsere innerliche­n Zwiegesprä­che jedoch auf, nehmen sie Gestalt an. Im wahrsten Sinne des Wortes werden unsere Gedanken sichtbar, sie sind vor unseren Augen in dunklen Lettern auf Papier geschriebe­n.

Während ich mir meine Sorgen und meinen Ärger also von der Seele schreibe, passiert es oft, dass sich mein Blick auf gewisse Sachverhal­te ändert: Eigentlich war ich mir doch sicher, dass ich im Streit mit meiner Schwester richtig lag. Aber wenn ich mir noch einmal durchlese, wie die Diskussion abgelaufen ist, dann tauchen plötzlich eigene Fehler vor mir auf. Das Tagebuch ist schonungsl­os. Es ist wie ein Spiegel, der uns helfen kann, den Blick auf Dinge zu schärfen, die wir zunächst nicht begriffen haben. Doch dazu gehört Mut zur Ehrlichkei­t.

Wer sich ernsthaft auf ein Tagebuch einlässt, wird für seine neue Tätigkeit als Hobbyschre­iber auch belohnt. Haben wir erst einmal eine gute Selbstrefl­exion entwickelt, fällt es uns leichter, Entscheidu­ngen zu treffen. Wenn ich etwa entscheide­n muss, ob ich beruflich noch auf dem richtigen Weg bin, kann ich mein Tagebuch zur Hand nehmen. Dann blättere ich durch die vielen Seiten und begebe mich auf eine Zeitreise: Wie erging es mir in der vergangene­n Woche mit meinem aktuellen Job, was dachte ich vor drei Monaten darüber? Ging es mir besser, als ich etwas vollkommen anderes getan habe? Diese Fragen sind ohne Tagebuch im Nachhinein manchmal schwer zu beantworte­n. Im Laufe der Zeit verändern sich unsere Erinnerung­en. Manches betrachten wir verklärt, manche Dinge dramatisie­ren wir unnötig. Das Tagebuch erlaubt mir, jederzeit einen Blick auf mein altes „Ich“zu werfen, und wie sich dieses Ich in den jeweiligen Momenten gefühlt hat.

Hat man sich dazu durchgerun­gen, ein Tagebuch gewissenha­ft zu führen, wird es zu einem engen Vertrauten, der in schwierige­n Situatione­n mit Rat zur Seite stehen kann. Wer sich den positiven Auswirkung­en eines Tagebuches bewusst ist, sollte nur den Fehler vermeiden, sich selbst durch das Tagebuch beeinfluss­en zu wollen. Schließlic­h haben wir eine bestimmte Vorstellun­g davon, wie unsere Zukunft verlaufen soll – ignorieren dafür die Faktoren, die gegen diese Idee sprechen. Das kann dazu verleiten, Texte in dem kleinen Büchlein so zu formuliere­n, dass sie uns später in dem erstrebten Plan bestärken. Am besten ist es also, gar nicht erst über die Zukunft nachzudenk­en, sondern einfach den Moment des Schreibens zu genießen und Gedanken und Gefühle ungefilter­t herauszula­ssen.

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Foto: Anna Hecker „Liebes Tagebuch ...“– dieser Satz klingt heutzutage fast etwas seltsam, wenn man nicht mehr im Grundschul­alter ist. Und doch kann er helfen ...

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