Das Tagebuch – mein engster Vertrauter?
Reflexion Viele kennen es nur noch aus ihren Kindheitstagen, in heutigen Zeiten scheint es etwas veraltet. Warum das Tagebuch dennoch ein sinnvoller Begleiter sein kann und welche Vorteile das Schreiben mit sich bringt
Region Seit ich meine Gedanken zuletzt in einem kleinen Büchlein schriftlich festgehalten habe, sind einige Jahre vergangen. In der Zwischenzeit kam mir das Schreiben in ein Tagebuch eher albern vor. Vor Kurzem habe ich den stillen Mitwisser meiner Gedanken und Gefühle neu entdeckt – und mich an die Vorteile erinnert, die ein Tagebuch mit sich bringen kann. Also auf ein Neues: „Liebes Tagebuch ...“.
So begannen alle Einträge des ersten Heftleins, das ich noch zu Grundschulzeiten mit meinen Gedanken füllte. „Heute habe ich eine Probe geschrieben. Ich hoffe, ich bekomme eine gute Note.“Im eher nüchternen Stil einer neutralen Berichterstattung wagte ich meine ersten, unsicheren Schritte in die Welt der gedanklichen Schriftführung. Nach kurzer Zeit wurde mir das Aufschreiben solcher Banalitäten allerdings zu langweilig. Den Mut, echte Probleme, Erlebnisse und Gefühle schriftlich zu thematisieren, fand ich erst Jahre später. Es mag überraschend klingen, dass man Mut braucht, um ein Tagebuch zu führen. Schließlich ist das kleine Büchlein nur für einen selbst gedacht und soll nicht von anderen Personen gelesen werden. Doch ein Tagebuch zu führen, heißt auch, sich bewusst mit seinem Leben auseinanderzusetzen und vor allem ehrlich zu sich selbst zu sein. Wer in seinem Tagebuch nicht bereit ist, auch selbstkritische Töne anzuschlagen oder seinen Emotionen freien Lauf zu lassen, wird dessen positiven Effekt – wie Stress abzubauen und die Gedanken zu ordnen – nie wirklich erleben können.
Wenn wir in unser Tagebuch Gedanken und Emotionen aufschreiben, werden diese auf eine gewisse Weise real. Oft trägt man ein Gefühl bereits in sich, spielt mit Gedanken und hegt heimliche. Solange wir das in unseren Köpfen einsperren, fällt es leicht, sie zu verdrängen und vor uns selbst zu verbergen. Schreiben wir unsere innerlichen Zwiegespräche jedoch auf, nehmen sie Gestalt an. Im wahrsten Sinne des Wortes werden unsere Gedanken sichtbar, sie sind vor unseren Augen in dunklen Lettern auf Papier geschrieben.
Während ich mir meine Sorgen und meinen Ärger also von der Seele schreibe, passiert es oft, dass sich mein Blick auf gewisse Sachverhalte ändert: Eigentlich war ich mir doch sicher, dass ich im Streit mit meiner Schwester richtig lag. Aber wenn ich mir noch einmal durchlese, wie die Diskussion abgelaufen ist, dann tauchen plötzlich eigene Fehler vor mir auf. Das Tagebuch ist schonungslos. Es ist wie ein Spiegel, der uns helfen kann, den Blick auf Dinge zu schärfen, die wir zunächst nicht begriffen haben. Doch dazu gehört Mut zur Ehrlichkeit.
Wer sich ernsthaft auf ein Tagebuch einlässt, wird für seine neue Tätigkeit als Hobbyschreiber auch belohnt. Haben wir erst einmal eine gute Selbstreflexion entwickelt, fällt es uns leichter, Entscheidungen zu treffen. Wenn ich etwa entscheiden muss, ob ich beruflich noch auf dem richtigen Weg bin, kann ich mein Tagebuch zur Hand nehmen. Dann blättere ich durch die vielen Seiten und begebe mich auf eine Zeitreise: Wie erging es mir in der vergangenen Woche mit meinem aktuellen Job, was dachte ich vor drei Monaten darüber? Ging es mir besser, als ich etwas vollkommen anderes getan habe? Diese Fragen sind ohne Tagebuch im Nachhinein manchmal schwer zu beantworten. Im Laufe der Zeit verändern sich unsere Erinnerungen. Manches betrachten wir verklärt, manche Dinge dramatisieren wir unnötig. Das Tagebuch erlaubt mir, jederzeit einen Blick auf mein altes „Ich“zu werfen, und wie sich dieses Ich in den jeweiligen Momenten gefühlt hat.
Hat man sich dazu durchgerungen, ein Tagebuch gewissenhaft zu führen, wird es zu einem engen Vertrauten, der in schwierigen Situationen mit Rat zur Seite stehen kann. Wer sich den positiven Auswirkungen eines Tagebuches bewusst ist, sollte nur den Fehler vermeiden, sich selbst durch das Tagebuch beeinflussen zu wollen. Schließlich haben wir eine bestimmte Vorstellung davon, wie unsere Zukunft verlaufen soll – ignorieren dafür die Faktoren, die gegen diese Idee sprechen. Das kann dazu verleiten, Texte in dem kleinen Büchlein so zu formulieren, dass sie uns später in dem erstrebten Plan bestärken. Am besten ist es also, gar nicht erst über die Zukunft nachzudenken, sondern einfach den Moment des Schreibens zu genießen und Gedanken und Gefühle ungefiltert herauszulassen.