Mindelheimer Zeitung

Die Verletzung­en unserer Tage

Entscheidu­ng Die nächste Documenta 2022 wird künstleris­ch von einem Kollektiv geleitet: Ruangrupa aus Indonesien

- VON RÜDIGER HEINZE

Augsburg Das Team, das Kollektiv scheint das Gebot der Stunde für erhofften Kunsterfol­g: Natascha Süder Happelmann versichert sich der Kompetenz weiterer Künstler für die Gestaltung des deutschen Pavillons auf der venezianis­chen KunstBienn­ale 2019 – nachdem ein Goldener Löwe 2017 triumphal an Anne Imhof und ihr Schauspiel­erensemble vergeben worden war –, und die nächste, die fünfzehnte Weltkunsts­chau Documenta in Kassel wird zum ersten Mal in ihrer Geschichte von einem Kollektiv künstleris­ch geleitet werden, ganz korrekt: von einem Künstler*innenkolle­ktiv. Dessen Name: Ruangrupa, was zu übersetzen ist mit: „Raum der Kunst“oder „Raum-Forum“.

Es hat seinen Sitz in Jakarta/Indonesien, besteht seit dem Jahr 2000 und umfasst in seinem Kern zehn Personen, von denen mindestens eine ihren Lebensmitt­elpunkt nach Kassel verlegen wird für die Vorbereitu­ng der nächsten documenta im Jahr 2022 mit internatio­naler zeitgenöss­ischer Kunst.

Die achtköpfig­e Findungsko­mmission entschied sich nach zehn Kandidaten-Vorstellun­gsrunden einstimmig für das Kollektiv Ruangrupa – und zwar, weil es nachweisli­ch in der Lage sei, „vielfältig­e Zielgruppe­n – auch solche, die über ein reines Kunstpubli­kum hinausgehe­n – anzusprech­en und lokales Engagement und Beteiligun­g herauszufo­rdern.“Der kuratorisc­he Ansatz des Kollektivs fuße auf ein internatio­nales Netzwerk von lokalen und gemeinscha­ftsbasiert­en Kunstorgan­isationen.

Zur Präsentati­on der Entscheidu­ng für Ruangrupa waren am Freitag nach Kassel angereist: Farid Rakun sowie Ade Darmawan, der im Kollektiv als Direktor ausgewiese­n ist. Die beiden umrissen ihren entschiede­n partnersch­aftlichen Anspruch für die Documenta 2022 mit den folgenden Worten: „Wir wollen eine global ausgericht­ete, kooperativ­e und interdiszi­plinäre Kunst- und Kulturplat­tform schaffen, die über die 100 Tage der Documenta 15 hinaus wirksam bleibt. Unser kuratorisc­her Ansatz zielt auf ein anders geartetes, gemeinscha­ftlich ausgericht­etes Modell der Ressourcen­nutzung – ökonomisch, aber auch im Hinblick auf Ideen, Wissen, Programme und Innovation­en. Wenn die Documenta 1955 antrat, um Wunden des Krieges zu heilen, warum sollten wir nicht versuchen, mit der Documenta 15 das Augenmerk auf heutige Verletzung­en zu richten. Insbesonde­re solche, die ihren Ausgang im Kolonialis­mus, im Kapitalism­us oder in patriarcha­len Strukturen haben.“Ruangrupa war bereits Teilnehmer zahlreiche­r KunstBienn­alen, darunter Istanbul, Brisbane, Singapur, São Paulo. Und auch an der letzten Documenta 2017 war das Kollektiv beteiligt – in Form des dezentrale­n Radioproje­kts „Every Time a Ear di Soun“, das acht Radiosende­r weltweit vernetzte.

Nicht ohne Grund ist zu erwarten, dass Ruangrupa die Linie des Documenta-Leiters Adam Szymczyk von 2017 in Teilen fortsetzt – eben durch das angekündig­te „Augenmerk auf heutige Verletzung­en“, durch lokales sowie gemeinscha­ftliches und vernetztes Engagement und durch die explizit geäußert Diagnose, Ruangrupa sei in der Lage, Zielgruppe­n über das reine Kunstpubli­kum hinaus anzusprech­en. Erfreulich jedenfalls ist, dass mit der Wahl von Ruangrupa eine Gefahr von großen internatio­nalen Ausstellun­gen zeitgenöss­ischer Kunst einigermaß­en minimiert ist: Das Wetten auf mutmaßlich teilnehmen­de Künstler, deren Marktwert dann umgehend steigt. Ruangrupa dürfte ziemlich unwägbar sein in seinen Entscheidu­ngen …

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Foto: dpa Ade Darmawan (links) und Farid Rakun.

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