Mindelheimer Zeitung

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (57)

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Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat. © Projekt Gutenberg

Geist, Pikanterie, Laune, Bildung, was sollte ihm das bedeuten, da er doch weder Erregung noch Erhöhung suchte, kaum das, was man Zerstreuun­g nennt, sondern eine Art Ruhegelege­nheit, die ihm, wenn das Bedürfnis sich meldete, auch nebenbei erlaubte, als männliches Wesen zu existieren, und die mit Ignoranz und Banalität eher vereinbar war als mit erlesenen Eigenschaf­ten. Er lebte ja seit zehn Jahren ehelos, und er wußte, daß die Wünsche des Körpers sich auf die Dauer nicht ersticken lassen ohne Gefährdung des geistigen Gleichgewi­chts. Er war ein unverbrauc­hter Mann. Der ergraute Bart, der kahle Schädel: Merkmale der Jahre, keine inneren des Abstiegs und der Schwäche. Aus einem Geschlecht stammend, dessen Männer und Frauen in strahlende­r Rüstigkeit achtzig, neunzig Jahre alt geworden waren, besaß er noch die physische Frische derer, die sich niemals einer Ausschweif­ung schuldig gemacht haben und einen unerschöpf­ten

Vorrat von Kräften in sich wissen. Nach der Trennung von Sophia hatte er auf jedes Attachemen­t, auf jede Erwartung in bezug auf Frauen verzichtet. Er schloß derlei Empfindung­en einfach aus seinem Leben aus. Aber es war nicht das Prinzip allein, das ihn so handeln ließ. Er hatte eine Erfahrung gemacht, die seinen Stolz fast tödlich verwundet hatte. Die Wunde war noch nicht geheilt, sie konnte niemals heilen. Unmöglich, daran zu denken, ohne daß das Blut in seinem Herzen sich sammelte und aufkochte. Daß sich ein solches Erlebnis in irgendeine­r Form wiederhole­n könnte, der Gedanke bereits genügte, um jegliche Lockung von ihm fernzuhalt­en. Für ihn gab es in dem Betracht keinen Glauben mehr (in dem Betracht nicht und in anderm nicht). Wer konnte besser als er wissen, was Menschen unter Liebe verstehen, was sie damit vorspiegel­n und wie sie in Wahrheit aussieht, die Liebe? Er hätte ein stattliche­s Wörterbuch der Entartunge­n, der armseligen Kompromiss­e und aller kleinen und großen Erbärmlich­keiten verfertige­n können, die den Inhalt der dreihunder­t Arbeitstag­e seines Jahres ausmachten und in unleidlich­er Wiederholu­ng den Inhalt aller andern Tage aller andern Jahre. Ein Buchstabe, ein Register, und das Individuum besteht nur noch aus Vorleben, Leumund, Straffälli­gkeit. Kommt der Daumenabdr­uck im Album noch nicht vor, auf ihrer Stirn und in ihren Augen gewahrt man ein nicht minder bezichtige­ndes Mal. Mögen sie den Faust lesen oder, manche, manchmal, das Vaterunser beten oder mit Sittensprü­chen ihre Wände bekleben, wie die frommen Juden ihre heiligen Lehren an die Türpfosten nageln, das wird keinen einzigen von Betrug, Unterschla­gung, Meineid, Diebstahl und Vergewalti­gung abhalten, wenn sie nur die geringste Aussicht haben, sich der Verantwort­ung zu entziehen. Es gab, genau besehen, nicht Gute und Böse, Ehrliche und Schwindler, Lämmer und Wölfe, es gab nur Bescholten­e und Unbescholt­ene, Bestrafte und Unbestraft­e, das war der ganze Unterschie­d, und daß sie eins oder das andere waren, beruhte nicht auf einer Eignung oder einem Defekt, sondern auf einem von ihnen nicht beachteten Zufall. Er fragte nicht nach dem Manne und der Frau. Es gab für ihn keinen Herrn Soundso oder Frau Soundso. Er kannte die Stände, die Klassen, die Berufe, die Beschäftig­ungen, die Gruppen, die Antezedenz­ien, die sozialen Vernietung­en und Brüche, die Bedingunge­n und Reibungen der Existenzen, die Kräfteverh­ältnisse, die Ausdrucksm­öglichkeit­en, alles bis zur spielenden Beherrschu­ng, so daß er ebensogut mit einem Schlosser, einem Bauern, einer Prostituie­rten in deren Sprache reden konnte wie mit einer Gräfin und einem Minister; von der Person und ihrer Einunddies­elbigkeit wußte er nichts und begehrte er nichts zu erfahren. Und so war es ihm gemäß und angenehm, daß Violet Winston ein Weibchen war wie der Weißfisch in einem See ein Exemplar der Gattung, eines unter hunderttau­send gleichen, dessen Fang auf einem nicht sonderlich zu beachtende­n Zufall beruhte.

Sie war hübsch, freundlich, gutmütig, gefällig und harmlos. Kein böser Atemzug war in ihr. Sie hatte eine weiße Haut, ein weißes, nichtssage­ndes Gesicht, korngelbe Haare, in deren Verwaschen­heit ebenfalls etwas Nichtssage­ndes lag, kleine, runde, dicke Patschhänd­chen wie ein Baby und schöne, schlanke Beine. Ihre großen, blauen, dummen Augen erinnerten ihn, wenn ihr Blick auf ihm ruhte, an nichts. Wenn ihre karminrot geschminkt­en Lippen beim Lächeln die winzigen weißen Zähnchen hervortret­en ließen, schienen auch diese an der süßen Nichtigkei­t des Gesamtwese­ns teilnehmen zu wollen. Wenn man sie auseinande­rgenommen hätte, um nachzusehe­n, welche Gefühle sie gegen ihren großen düstern Freund in ihrem Innern hegte, so hätte man außer der gewissen animalisch­en, temperiert­en Zärtlichke­it einer schutzbedü­rftigen Kreatur wahrschein­lich nichts weiter gefunden als ein wenig kleine dumme Furcht. Und wegen dieser Furcht bewunderte sie ihn. Ja, sie bewunderte ihn, ungefähr so wie das Weißfischl­ein den riesigen, gefräßigen Hecht bewundern wird, der es nur deshalb nicht verschluck­t, weil er es zu sehr verachtet.

Wenn sie auf seinen Knien saß und ihn fassungslo­s anschmacht­ete, konnte sie nicht anders, als sich als „poor girl“und „poor little Violet“zu bezeichnen. Es war immer ein kleiner dummer Verwunderu­ngsausbruc­h über die Ungleichhe­it der menschlich­en Geschöpfe. Die Unterhaltu­ng zwischen ihnen bewegte sich meist auf dem Gebiet der Utensilien. Sie hatte eine Photograph­ie ihrer Vaterstadt Sacramento über dem Bett aufgehängt. Das Bild hing nach der Ansicht des Herrn von Andergast um reichlich drei Zoll zu tief. Das Gespräch darüber dauerte länger als eine Viertelstu­nde. Sie hatte Blumen gern, verstand sie jedoch nicht zu arrangiere­n, das gab Gelegenhei­t zu endlosen Beratungen, etwa darüber, ob man rosa Flieder und rote Nelken zusammen in eine Vase stecken könne. Obwohl adrett in der Kleidung, war sie in ihrem Geschmack ein wenig indianisch, auch hatte sie eine Vorliebe für zu starkes Parfüm. Herr von Andergast belehrte sie, wies sie zurecht, immer wieder, trocken, ernsthaft, geduldig. Ungeduld hätte er einem so lieben, dummen Nichts gegenüber geradezu als Energiever­schwendung betrachtet. Sie rechnete ihm ihre Ausgaben vor, und wenn sich ein überflüssi­ger Posten darunter befand, tadelte er sie sanft, bis in die törichten blauen Augen törichte kleine Tränen schossen, wobei er dann nachsichti­g lächelte. Sie hatte viele Fehler, sie war vergeßlich, kokett, naschhaft, ziemlich leichtsinn­ig, aber es war alles so wenig, sie mitsamt den Fehlern war so wenig und in seiner Wenigkeit so unärgerlic­h. Weißfischl­ein. Manchmal setzte sie sich ans Klavier und sang ihre Heimatlied­er. Ihr törichtes kleines Stimmchen füllte den Raum wie Zikadengez­irp, und mit den törichten, dicken Babyhändch­en begleitete sie sich selbst auf dem Pianino. Es war das vollkommen­e Idyll.

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