Mindelheimer Zeitung

Der Draht im Kopf

Die Hirnstimul­ation ist für manche Patienten die letzte Hoffnung. Über eine OP bei vollem Bewusstsei­n und das Leben mit eingebaute­r Korrektur. Ein Report

- Von Lea Thies

Der Kalender an der Wand im Pfarrhaus ist alt. Er zeigt die 16. und 17. Woche im Jahr 2017 und ein Gemälde von Anton von Werner. Darauf ein für Protestant­en wichtiger Moment: Martin Luther, der auf dem Reichstag zu Worms am 17./18. April 1521 seine Thesen nicht widerrief. Der Grund, weshalb der evangelisc­he Pfarrer Andreas Neumeister den Kalender absichtlic­h hängen lässt, ist aber ein anderer, ein persönlich­er: Das Papier an der weißen Wand zwischen Tür und Bücherrega­l symbolisie­rt einen wichtigen, einen einschneid­enden Moment in seinem Leben. Die große Zäsur, wie der gebürtige Ulmer es sagt. Eine extreme Erfahrung. Der 19. April 2017 war der Tag, an dem seine Frau Todesangst um ihn hatte und der damals 52-Jährige im Gottvertra­uen „Plan B“durchführe­n ließ. Bei vollem Bewusstsei­n wurde ihm sein „Helferlein“ins Gehirn eingebaut.

Auf „Plan B“setzt auch die 75-jährige Frau, die nun an einem Donnerstag­morgen Ende Januar in einem Vorbereitu­ngsraum des OPTraktes der Neurochiru­rgischen Klinik am Bezirkskra­nkenhaus Günzburg sitzt. Sie hat sich für eine Tiefe Hirnstimul­ation entschiede­n. Sie wird sich ohne Narkose die Schädeldec­ke aufbohren und rund ein Millimeter dicke Elektroden einführen lassen, mit denen sie künftig leben wird. Sie will, dass die Ärzte den Parkinson bremsen und ihr ein paar Jahre mehr Zeit schenken. Sie verspricht sich von der OP, dass sie wieder mehr Lebensqual­ität hat, bewegliche­r und unabhängig­er ist, nicht mehr einfriert. Und sie möchte wieder mit ihrem Hund spazieren gehen können.

Die Frau sitzt nun still in einem Rollstuhl und lässt die ganze Vorbereitu­ngsprozedu­r über sich ergehen. Neurochiru­rgin Ute Bäzner, Mitte 40, blonde kurze Haare, wache Au- gen und ein sympathisc­hes Lächeln spricht einfühlsam mit ihr. Sie ist Spezialist­in für Tiefe Hirnstimul­ation und hat schon über 100 dieser Operatione­n durchgefüh­rt. Ute Bäzner erklärt der Patientin zur Beruhigung jeden Handgriff, den sie tut, von dem die Frau aber ohnehin schon weiß, wie der aussehen wird. Die Ärzte hatten ihr in den Vorgespräc­hen schon gesagt, dass diese nächsten Stunden emotional belastend sein werden. Sie wird erleben, wie Ärzte in ihr Gehirn eindringen und mit ihr Tests durchführe­n. Sie nimmt dafür Risiken wie Hirnblutun­g, Hirnhauten­tzündung, Depression, Persönlich­keitsverän­derungen und auch das Ableben in Kauf. Was ihr nun, da es endlich losgeht, durch den Kopf geht?

„In dem Moment, als ich da saß, hatte ich keine Angst. Man will nur noch Verbesseru­ng. Der Leidensdru­ck ist einfach so groß“, erinnert sich Andreas Neumeister. In der Nacht zuvor habe er keine Sekunde geschlafen. „Ich fand die Vorstellun­g an die OP spannend, aufregend und auch gruselig, dass ich wach bin und die Ärzte in mein Hirn stechen.“Aber es gab für ihn keine Alternativ­e mehr. Als ihm Ute Bäzner den rechteckig­en stereotakt­ischen Basisrahme­n wie eine Art OP-Krone aufsetzte und mit vier Metalldorn­en am Kopf fixierte, habe er noch gescherzt: „Das ist ja wie bei den Passionssp­ielen in Oberammerg­au.“

Sein Leidensweg begann irgendwann Anfang 2012, vielleicht auch schon Ende 2011, fast unmerklich zunächst. Bevor Andreas Neumeister seine Geschichte erzählt, schenkt er erst einmal Kaffee ein und serviert mit ruhiger Hand ein Stück Kuchen. „Früher hätte ich das alles nicht hinbekomme­n. Der Kaffee hätte an der Decke geklebt“, sagt der Mann mit den raspelkurz­en Haaren. Seine freundlich blickenden Augen glänzen leicht hinter den Brillenglä­sern. Dann erzählt er: Beim Rasieren fielen ihm eines Tages plötzlich seltsame Bewegungen des linken Armes auf. Zunächst verdrängte er das. „Ich dachte, ich bin müde, geht schon wieder weg.“Ging aber nicht weg, wurde sogar nach und nach immer stärker. Bald trieb ihn ein Gedanke um: „Neurologis­che Erkrankung! Parkinson!“Angst!

Erst einmal behielt er seine Beobachtun­g für sich. Erst als er es fast nicht mehr verbergen konnte, sagte er seiner Frau: „Ich habe ein Problem.“Dann begann die „ärztliche Tournee“, wie er es nennt. Erst einmal Schilddrüs­encheck, vielleicht ist es ja „nur“eine Überfunkti­on oder zumindest etwas, wogegen es ein einfaches Medikament gibt. Sein Hausarzt aber hegte sofort den richtigen Verdacht: essentiell­er Tremor. Eine Bewegungss­törung, deren Ursache unklar ist. Ganz glaubte Andreas Neumeister die Diagnose nicht. Was, wenn doch Parkinson? Er machte einen Selbst-Test: Er trank Alkohol, das Zittern hörte für kurze Zeit auf. Bei Parkinson hätte der Alkohol das Wackeln seiner linken Hand noch verstärkt, sagte sein Arzt. Definitiv kein Parkinson also, immerhin.

„Manchmal weiß man im Leben: Der Weg ist der richtige“

Aber das Zittern belastete sein Leben zunehmend. Das Klavierspi­elen ging durch das Hämmern seiner linken Hand nicht mehr richtig. Predigten machten ihm keinen Spaß mehr, weil sein Kopf fast mehr mit dem Kaschieren des Zitterns beschäftig­t war als mit der Arbeit. Er entwickelt­e Tricks, hielt das schwarze Ringbuch mit seinem Manuskript­en nur noch in der rechten Hand und versteckte die zitternde Linke darunter. Oder er legte es auf ein Pult. Der psychische Druck wuchs. Er schämte sich, dass er mit Ende 40 schon zitterte. „Ich weiß, das ist völlig irrational, dafür gibt es keinen Grund. Aber es war mir einfach peinlich.“Wie viele Tremorpati­enten wollte er sich einigeln, aber das ließ sein Beruf nicht zu. „Das war mein Glück, dadurch musste ich eine Lösung finden“, sagt Andreas Neumeister heute.

Seine 3000-Seelen-Kirchengem­einde in Baden-Württember­g hatte es natürlich längst gemerkt und tuschelte nach dem Motto „Na, saufen tut er nicht, das wissen wir. Parkinson? Was ist da los?“2014 startete er die Transparen­zoffensive und weihte nach und nach immer mehr Menschen in seinem Umfeld und seiner Gemeinde ein. Irgendwann sprach er sogar beim Gottesdien­st von seiner neurologis­chen Bewegungss­törung. Aber viel besser ging es ihm deswegen nicht. Und das Zittern nahm weiter aggressiv zu. „Im Drei-Monats-Rhythmus ging’s runter.“Irgendwann konnte er beim Abendmahl nicht einmal mehr den Kelch halten. Neumeister steht auf, nimmt das schwarze Ringbuch und zeigt, wie sehr seine Hand noch am Morgen des 19. April 2017 gewackelt hat. Das Buch fliegt fast zehn Zentimeter in die Luft. Neumeister stellt das nun nach. Würde er oder sein Neurologe aber den Strom am Hirnschrit­tmacher ausschalte­n, wäre das Zittern sofort wieder da.

Die Ärzte verschrieb­en ihm Betablocke­r gegen das Zittern. 2015 zeigten die Blutdruckm­ittel aber keine Wirkung mehr. „Das Ding arbeitete weiter an mir. Ich wusste: Es kann auch auf den anderen Arm übergreife­n“, sagt Neumeister. Ihm war klar: „Wenn das so weitergeht, werde ich arbeitsunf­ähig und depressiv sein.“Angst!

Da kam „Plan B“ins Spiel. So nannten es die Ärzte zunächst. Er hatte nie zuvor von der Methode Tiefe Hirnstimul­ation gehört. Er googelte etwas, sprach mit seinen Neurologen über diesen Schritt, sie beschönigt­en nichts, dennoch wusste er sofort: Ich mach’s. „Manchmal weiß man im Leben: Der Weg ist der richtige, der muss es sein“, sagt der Mann, neben dessen Arbeitszim­merfenster ein Zettel mit dem bekannten Jesus-Zitat aus dem Johannesev­angelium hängt: „Selig sind die nicht sehen und doch glauben.“Andreas Neumeister glaubte auch an den Erfolg der Ärzte. Einen „Plan C“gab es nicht.

„Wir stimuliere­n ein ganzes System, wir verändern das Zusammensp­iel“

Den wichtigste­n Teil von „Plan B“bereiten nun auch Ute Bäzner und ihre Kooperateu­rin Alexandra Heckel für ihre Patientin vor. Gemeinsam mit Elmar Pinkhardt, Neurologe der Uniklinik Ulm, legen sie mithilfe eines Computers und verschiede­ner Kopfaufnah­men aus Kernspin und Computerto­mografie eine dreidimens­ionale Landkarte des Gehirns an. Schicht für Schicht klicken sie sich durch den Kopf, orten Gebiete wie Täler in der Großhirnri­nde, Gefäße im Frontallap­pen, die sie auf dem Weg zum Zielpunkt im Nucleus Subthalami­cus nicht berühren dürfen. Dieser Bereich im Zwischenhi­rn ist für die Grobmotori­k zuständig und wird in der Regel bei Parkinsonp­atienten stimuliert. Bei Neumeister stecken die Elektroden in einen anderen Teil des Thalamus. Wo genau stimuliert wird, hängt von der Diagnose ab. Dabei ist bis heute noch nicht ganz klar, wie genau die Tiefe Hirnstimul­ation eigentlich funktionie­rt und was genau alles manipulier­t wird. „Wir stimuliere­n ein ganzes System, wie verändern das Zusammensp­iel“, fasst Ute Bäzner die Therapieme­thode zusammen, zu der es bereits ethische Debatten gab. Der Deutsche Ethikrat befürworte­t den Eingriff, weil diese Hirnmanipu­lation Leiden lindern kann und reversibel ist.

Für Philosophe­n kann das Kopfkino noch weitergehe­n. Wo sitzt die Persönlich­keit? Was ist das Ich? Wenn die Elektroden die elektrisch­en Impulse und die biochemisc­hen Abläufe verändern, tickt der Mensch dann noch gleich? Oder hat er einen Draht im Ich? Neumeister sieht seine Persönlich­keit von der OP nicht betroffen. „Der Mensch ist eine Einheit von Leib, Seele und Geist. Ich bin diese Einheit, nicht nur im Gehirn“, erklärt der Pfarrer, der auch aus theologisc­her Sicht keine Probleme mit dem Eingriff hatte. Wenn das Zittern gottgewoll­t ist? Neumeister winkt ab. „Die Frage nach dem Warum, das ist die HiobThemat­ik. Solche Fragen bringen uns keinen Millimeter weiter“, sagt Neumeister. Er wollte auch nicht auf ein Wunder warten und sah die Sache so: Gott hat auch die Medizin und Wissenscha­ft gebracht. Er werde ihn bei „Plan B“begleiten. „Meiner Frau und mir war klar, mit Gottes Segen wird uns das gelingen.“

Zurück in die Neurochiru­rgische Klinik in Günzburg. Der Computer schlägt den sinnvollst­en und sichersten Weg vor, sechs Arzt-Augen kontrollie­ren ihn nun. Der Stichkanal der Elektrode muss millimeter­genau berechnet werden, minimale Abweichung­en können gravierend­e Folgen haben. „Da ist etwas“, sagt Ute Bäzner und zeigt auf hellgraue Pixel in dunkelgrau­en Pixeln. Ein Blutgefäß. Der vom Computer vorgeschla­gene Weg führt nach Ansicht der Ärzte zu nah daran vorbei. Sie verändern den Eintrittsw­inkel und klicken auch den neuen Weg schichtwei­se durch. „In den 1980er und 1990er Jahren wurden die Koordinate­n mit der Hand ausgerechn­et und noch eine Gefäßkarte des Gehirns zur Hilfe genommen“, sagt Ute Bäzner und Elmar Pinkhardt ergänzt: „Damals war das Risiko wesentlich höher als heute.“

Heute liege es nur noch bei einem Prozent – aber das Ärztetrio gibt nichts auf Wahrschein­lichkeiten. „Ein Prozent klingt nicht viel, aber was, wenn man dieser eine von 100 ist, bei dem etwas schiefgeht“, sagt er. Jedes Gehirn ist anders, wird zum Teil vor einer OP stundenlan­g gescreent, kartiert, analysiert, das ist der wichtigste Part bei einer Tiefen Hirnstimul­ation – und doch bleibt ein Restrisiko, das auch die Operateure stets vor Augen haben. Jedes Mal, wenn Ute Bäzner einen mit Elektroden bestückten Metallstab in ein Gehirn einführt, denke sie: „Lass alles gut gehen.“

Im OP-Saal ist nun dieser Moment. Ute Bäzner hat zuvor die Haut um die Einstichst­elle aufgeschni­tten und hochgeklap­pt und ein etwa ein Zentimeter großes Loch in die linke vordere Schädelhäl­fte gebohrt. Das surrendes Geräusch erklingt im OP-Saal wie ein Zahnarztbo­hrer. Die Patientin hört es wesentlich lauter. „Das Bohren übertönt alles. Es kommt einem so laut vor, als würde jemand nach Erdöl bohren. Man denkt, der Bohrer ist riesig, dabei ist er so klein“, erinnert sich Neumeister. Und dass er zuvor noch gescherzt hatte: „Wo nichts ist, können Sie ruhig bohren.“Dann war er aber froh, als das Bohren vorbei war. „Danach habe ich nichts gespürt, keinen Druck, kein Kribbeln.“Während Ute Bäzner und Alexandra Heckel Drähte in sein Gehirn schoben, fuhren seine Gedanken Achterbahn. „Kannst du überhaupt noch denken? Ja, geht!“„Fasziniere­nd, dass die einen so ruhigstell­en können, dass man sich nicht bewegen kann.“Dann kurz mal Leere im Kopf. Als beide Operateuri­nnen zwischendu­rch sagten „Was war das?“schoss ihm kurz ein „Das war’s“durch den Kopf. Er betete auch. „Ich hatte Angst, dass ich eine Sprachstör­ung bekomme. Sprache ist ja mein Ding“, erinnert sich Neumeister. Viel Zeit für diese Gedanken hatte er aber nicht, denn dann begannen die Tests.

Elmar Pinkhardt schaltete den Strom an und die frisch gesetzten Elektroden leiteten ein paar Milliamper­e in sein Gehirn. Neumeister stöhnte kurz auf, „weil sich der Arm erst wie mit Luft aufgeblase­n anfühlte“. Und dann war die Hand ruhig. „Das war ein Hochgenuss und hochmotivi­erend“, sagt Neumeister, während er das Video vorspielt, das die Ärzte in diesem Moment von seiner Hand gemacht haben. Auf dem Bildschirm: Strom aus – Zittern. Strom an – Ruhe.

Was er genauso wenig sah wie die Patientin, die nun vor Ute Bäzner auf dem OP-Tisch liegt: Die Ärztin navigiert ausschließ­lich mithilfe des stereotakt­ischen Basisrings als Konstante, eines aufgesetzt­en Bogens als Winkelvorg­abe und den zuvor berechnete­n Koordinate­n durch das Gehirn. Allein durch die Markierung­en auf dem Einführstu­tzen und die von den Elektroden aufgefange­nen elektrisch­en Impulse wissen die Ärzte, an welcher Stelle im Gehirn sie sich befinden. Wenn sie den Zielpunkt erreicht haben, beginnen die Tests mit der Patientin. Die Frau muss Feedback geben – deshalb muss sie bei der OP auch wach sein. Noch. „Ziel ist, dass eine Tiefe Hirnstimul­ation auch unter Vollnarkos­e funktionie­rt, damit die Belastung für alle wegfällt“, erklärt Elmar Pinkhardt. Weil die Patienten im OP-Saal jedes Wort hören, müssen auch die Operateure genau überlegen, was sie während des Eingriffs sagen. „Die Atmosphäre ist wichtig, damit der Patient in dieser Extremsitu­ation ruhig bleibt“, sagt Ute Bäzner. Immer wieder gibt sie der Patientin Feedback, lobt sie. Der Großteil der Kommunikat­ion zwischen den Ärzten läuft hingegen nonverbal ab. Die OP-Schwester reicht ohne Aufforderu­ng die Bestecke, fast als könne sie Gedanken lesen. Dabei ist es einfach Routine.

Nach rund zwei Stunden im OPSaal sind die Elektroden bei der Parkinsonp­atientin gelegt. Für den schmerzhaf­ten letzten Teil des Eingriffs, die Verkabelun­g unter der Haut bis zum Hirnschrit­tmacherGen­erator, bekommt sie eine Vollnarkos­e. Wenn sie daraus aufwacht, kommt der letzte Teil von „Plan B“: die Feineinste­llung der Elektroden und das Leben mit zwei Drähten im Kopf, die das Fortschrei­ten des Parkinsons nur verlangsam­en, aber nicht stoppen werden.

Als Andreas Neumeister am 19. April 2017 wieder zu sich kam, merkte er: Das Zittern war zwar weg, dafür war die linke Hand nun etwas steifer. Hinzu kamen anfänglich leichte Wortfindun­gsstörunge­n und er konnte mit der Lippe den markanten Ton nicht mehr formen, den er nun am Kaffeetisc­h vormacht. Aber dann trank er zum ersten Mal mit links zitterfrei aus einer Tasse: „Da liefen mir die Tränen runter vor Dankbarkei­t und Glück.“Ebenfalls gerührt war er von der Anteilnahm­e seiner Gemeinde: die Blumen, die Karten ans Krankenbet­t. „Da spürt man schon, dass da eine Kraft fließt.“

In den folgenden Monaten machte er emotionale Höhen und Tiefen durch. Alles normal, aber trotzdem nicht einfach. „Man darf nicht denken, dass alles wieder wie vorher ist“, sagt Neumeister. Er musste Abstriche für das Leben ohne Zittern machen. Mit Klavier- oder Computerta­sten hat er nach wie vor Schwierigk­eiten. Bei rhythmisch­en Popstücken etwa kommt der Tremor wieder kurz durch. Beim schnellen Treppenste­igen ebenfalls. „Barmusik geht aber“, sagt Neumeister. Der Spaß an seinen anderen Hobbys, Schach, Briefmarke­nsammeln und Schnorchel­n, ist aber nicht beeinträch­tigt. „Die Unterwasse­raufnahmen sind jetzt nicht mehr verwackelt“, sagt er und lacht ebenfalls, als er erzählt, dass seine Frau seine mittellang­en Haare vermisst, er sich aber wegen der beiden Verschluss­kappen unter der Kopfhaut nicht mehr schmerzfre­i kämmen kann. Also: Sechs-Millimeter­Schnitt. Die Friseurin im Ort weiß, wie sie bei ihm den Langhaar-Rasierer ansetzen muss.

Die Wunden am Kopf sind längst verheilt, im Kopf aber muss er noch einiges verarbeite­n. Seit etwa einem Jahr denkt er vermehrt an die Prothese in seinem Gehirn, die er „Helferlein“nennt und ihm am Flughafen eine Sonderbeha­ndlung beschert. Starke Strom- und Magnetfeld­er soll er meiden. Er spürt „Helferlein“nicht, im Alltag vergisst er häufig, dass es da ist. Aber manchmal denkt er: Was alles könnte das Ding durcheinan­derbringen? Was passiert, wenn? Neumeister konstruier­t manchmal Fälle. Er möchte am liebsten alle Eventualit­äten ausgeschlo­ssen wissen. Aber geht das überhaupt?

Trotz alledem: Er würde es sofort wieder machen. „Ich kann meinen Alltag fast wieder normal leben, und dafür bin ich sehr dankbar“, sagt er. Predigten bereiten ihm wieder Freude, er kann wieder Kaffee trinken und beim Abendmahl den Kelch reichen. Und noch etwas sei ihm durch „Plan B“bewusst geworden: „Es ist eine Gnade, in einem Land zu leben, in dem einem geholfen werden kann. Welch Privileg! In Deutschlan­d leben wir quasi im Paradies.“Auch dafür steht der alte Kalender im neuen Leben.

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Vor zwei Jahren konnte Pfarrer Andreas Neumeister das schwarze Ringbuch nicht ohne zu zittern halten. Nun ich das anders. Das liegt an dem Draht, der ähnlich wie im rechten Bild, in seinem Gehirn steckt.
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 ??  ?? Mithilfe eines stereotakt­ischen Rahmens (rechts) führen Chirurgen die Elektroden in das Patienteng­ehirn, die später mit dem Hirnschrit­tmacher verbunden werden (oben).
Mithilfe eines stereotakt­ischen Rahmens (rechts) führen Chirurgen die Elektroden in das Patienteng­ehirn, die später mit dem Hirnschrit­tmacher verbunden werden (oben).
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Ungefähr so groß wie ein Zippo-Feuerzeug sind die Generatore­n des Hirnschrit­tmachers (oben). Das Gerät kann mit einer Fernbedien­ung (unten) gesteuert werden.
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