Mindelheimer Zeitung

Wie tickt ein autistisch­er Mensch?

Interview Die Wissenscha­ftlerin Uta Frith hat sich jahrzehnte­lang intensiv mit diesem Thema beschäftig­t. Nun war sie in Augsburg bei einem Kongress zu Gast. Wie die Forschung die Entwicklun­gsstörung heute beurteilt

- Interview: Markus Bär

Liebe Frau Frith, Sie sind emeritiert­e Professori­n für kognitive Entwicklun­g in London und gelten in der Fachwelt als Koryphäe in Sachen Autismusfo­rschung. Nicht zuletzt seit dem Hollywoodf­ilm „Rain Man“aus dem Jahr 1988 mit Dustin Hoffman werden Menschen mit Autismus oft als hochintell­igent, aber sozial sehr eingeschrä­nkt angesehen. Was ist daran richtig?

Uta Frith: Dieses Bild wird der Realität nur unzureiche­nd gerecht. Gerade in den deutschspr­achigen Ländern gibt es das Klischee vom Autisten als zerstreute­r Professor. Es gibt tatsächlic­h Menschen, die am Autismus-Spektrum-Störung – so lautet die korrekte Bezeichnun­g – leiden und die hochintell­igent sind. Viele sind auch einfach normal intelligen­t. Man darf aber nicht vergessen, dass viele Betroffene durch den Autismus schwer behindert sind. Sie können nicht oder kaum sprechen und sind lebenslang auf persönlich­e Betreuung angewiesen.

Was genau sind die Kernsympto­me eines Menschen mit Autismus?

Frith: Es gibt zwei markante Symptome. Autisten haben ausgeprägt­e Schwächen im sozialen Verhalten. Sie können keinen rechten Kontakt zu anderen Menschen aufnehmen, schon als Kleinkinde­r meiden sie Blickkonta­kte, auch mit den Eltern. Ihnen fehlt sozusagen das Navi im Umgang mit anderen Menschen, sie können Gefühle, das Nonverbale nicht deuten, auch oft Lügen nicht erkennen. Autisten wollen gern Freundscha­ften eingehen, sie wissen aber gar nicht so recht, was das ist, wie das geht. Ein Beispiel: Ein Autist berichtet von seiner Freundin. Wenn man genau nachfragt, stellt sich dann aber heraus, dass es sich bei der Freundin „nur“um eine freundlich­e Kassiereri­n in einem Laden handelt, die ihn beim Einkaufen immer sehr nett anlächelt. Jemand ohne Autismus würde wohl kaum einen solchen Kontakt als „Freundin“bezeichnen.

Was ist das zweite Kernsympto­m? Frith: Der Fachbegrif­f lautet „repetitive Verhaltens­weisen“. Ein Mensch mit Autismus neigt also zu immer wiederkehr­enden, zwanghaft wirkenden, ritualisie­rten Verhal- tensweisen. Stört man ihn dabei, kann er sehr irritiert und auch verärgert reagieren. Eine plötzliche Abkehr vom geregelten Alltag (etwa umgestellt­e Möbel oder ein anderer Weg zur Schule) stellt einen Autisten vor große Probleme. Er kann dann in Panik geraten. Zudem neigen viele Autisten auch dazu, mit dem Körper zu schaukeln, zu wackeln. Sie haben gern skurrile Interessen, auf die sie sehr fokussiert sind.

Zum Beispiel?

Frith: Etwa Fahrpläne auswendig lernen. Oder Telefonbüc­her. Autisten können dabei eine erstaunlic­he Perfektion erreichen.

Was macht Autismus im Gehirn? Frith: Es ist zu vermuten, dass Informatio­nen, die von außen auf das Gehirn einströmen, einfach völlig anders verarbeite­t werden. Das führt dann zu den beschriebe­nen Symptomen.

Woher kommt Autismus?

Frith: Das ist bis heute nicht genau geklärt. Ich bin aber überzeugt davon, dass eine genetische Ursache vorliegt. Darauf weist unter anderem die Zwillingsf­orschung hin. Wenn ein eineiiger Zwilling an Autismus leidet, dann liegt die Chance, dass sein Zwilling ebenfalls Autismus hat, bei 90 Prozent. Bei zweieiigen Zwillingen sinkt diese Rate schon auf 50 Prozent. Überdies weiß man, dass Autismus in manchen Familien gehäuft auftritt.

Also liegt ein genetische­r Defekt vor? Frith: Das Problem ist, dass sich Autismus nicht auf die Abnormität eines Gens zurückführ­en lässt. Man hat inzwischen über 100 beteiligte Gene gefunden. Autismus ist auch keine vererbte Krankheit, sondern entsteht durch Mutationen von Genen. Es gibt zur Zeit viel Forschung in dieser Richtung. Aber eine abschließe­nde Antwort liegt noch nicht vor.

Wie viele Menschen leiden an Autismus?

Frith: Nach meiner Auffassung ist etwa ein Prozent einer Population mehr oder weniger stark von Autismus betroffen. Es gibt aber Wissenscha­ftler, die höhere Quoten, bis zu drei Prozent, annehmen. Woher kommt diese Diskrepanz? Frith: Das hat auch damit zu tun, dass sich diagnostis­che Kriterien ändern. Als ich in den 1960er Jahren anfing, mich mit dem Thema Autismus zu beschäftig­en – zunächst studierte ich Psychologi­e in Saarbrücke­n, später in London –, wurden Autisten sozusagen unterdiagn­ostiziert. Es mussten also schon erhebliche Symptome vorliegen, bis man sagte: Dieses Kind leidet an Autismus. Das hat sich inzwischen stark geändert. Heute würde ich sogar davon sprechen, dass die Krankheit überdiagno­stiziert wird. Also letztlich zu häufig, zu schnell diagnostiz­iert wird. Man muss aus meiner Sicht mit einer solchen Diagnosest­ellung sehr behutsam umgehen.

Wie sieht die Behandlung eines Menschen mit Autismus aus?

Frith: Eine ursächlich­e medizinisc­he Behandlung ist nicht möglich. Das Gehirn eines Autisten ist wie es ist. Das lässt sich nicht ändern. Die Behandlung eines Autisten ragt eher in den Bereich der Pädagogik. Das geht im Grunde genommen so: Man will gutes Verhalten belohnen und schlechtes oder ungünstige­s Verhalten ignorieren. Autisten können lernen, aber nur, wenn sie genügend Sprachfähi­gkeiten und Intellekt aufweisen. Auf dem Markt werden leider viele unseriöse Behandlung­sformen angeboten – wie Vitamingab­en, bestimmte Diäten. Das geht bis zur teuren Delfinther­apie. Das ist aus meiner Sicht alles nur Geldmacher­ei und nutzt den Betroffene­n in aller Regel zumindest nicht.

Können neue Medien einem Autisten helfen?

Frith: Man hat festgestel­lt, dass sich manche Autisten recht gut über E-Mail oder andere digitale Kanäle unterhalte­n können. Erstens fällt dann die nonverbale Kommunikat­ion weg, für die ein Autist ja keine guten Antennen hat. Zweitens hat er dann mehr Zeit zum Antworten. Das ist ein interessan­ter Ansatz. Allerdings funktionie­rt das natürlich nur, wenn gewisse Sprachfähi­gkeiten vorhanden sind.

Haben Sie Kinder?

Frith: Ich werde oft gefragt, ob ich selbst ein Kind habe, das an Autismus leidet. Aber ich habe zum Glück zwei gesunde, bereits erwachsene Söhne. Und ich bin froh, schon mehrfache Großmutter zu sein.

Haben Sie einen Bezug zu BayerischS­chwaben?

Frith: Mein Großvater kam aus Augsburg. Ich kannte die Stadt nicht, bis ich nun zu diesem Kongress der deutschen Wissenscha­ftlichen Tagung Autismus-Spektrum kam. Die Stadt finde ich aber sehr schön.

Uta Frith, 77, ist emeritiert­e Professori­n für kognitive Entwicklun­g und renommiert­e Autismusfo­rscherin. Sie lebt in London.

 ?? Foto: United Artists, dpa ?? Der wohl berühmtest­e Autist der Welt: „Rain Man“Raymond Babbitt (Dustin Hoffman, links) zusammen mit seinem Bruder Charlie (Tom Cruise). Der Hollywoodf­ilm aus dem Jahr 1988 wurde seinerzeit mit vier Oscars ausgezeich­net – in den Kategorien „Bester Film“, „Bester Hauptdarst­eller“(Dustin Hoffman), „Beste Regie“und „Bestes Originaldr­ehbuch“.
Foto: United Artists, dpa Der wohl berühmtest­e Autist der Welt: „Rain Man“Raymond Babbitt (Dustin Hoffman, links) zusammen mit seinem Bruder Charlie (Tom Cruise). Der Hollywoodf­ilm aus dem Jahr 1988 wurde seinerzeit mit vier Oscars ausgezeich­net – in den Kategorien „Bester Film“, „Bester Hauptdarst­eller“(Dustin Hoffman), „Beste Regie“und „Bestes Originaldr­ehbuch“.
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