Mindelheimer Zeitung

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (58)

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Der Gang im Sturm über die Felder lag Herrn von Andergast noch in den Gliedern, als er zu Violet kam. Er hatte zu Hause gegessen und sich sorgfältig umgekleide­t. Sie beklagte sich schmollend. Sie fühlte sich vernachläs­sigt, seine Besuche waren in der letzten Zeit immer seltener geworden. In ihrem komischen Deutsch radebreche­nd, er hatte darauf bestanden, daß sie Deutsch lerne, sagte sie, sie fühle sich verlassen „like a single shoe“. Herr von Andergast beschwicht­igte ihren Unwillen so mühelos, wie man ein brennendes Zündholz ausbläst. Sie hatte einen Unglücksta­g gehabt. Sie hatte ihre goldene Armbanduhr verloren. Sie sagte, sie werde nun nie mehr wissen, wieviel Uhr es sei. „Poor little Violet has lost the time.“Sie werde nachts jede Stunde aufwachen aus Angst, den Tag zu versäumen, und werde warten, bis die abscheulic­he große Kirchenglo­cke schlagen würde. Herr von Andergast machte ein Gesicht, als denke er über ein Schach-

problem nach, und sagte, man werde trachten, ihr eine neue Uhr zu kaufen, doch müsse sie ihren Verlust bei der Polizei melden. Er beschrieb ihr den Weg, das Haus, die erforderli­chen Formalität­en. Dabei saß sie ihm gegenüber und blickte ihn mit ungemessen­er Bewunderun­g an. Sie hatte ihm eine Zigaretten­sorte gekauft, die er bevorzugte, brachte schnellfüß­ig die Schachtel, reichte ihm Feuer, zündete selbst eine Zigarette an; darauf sprachen sie friedlich und eingehend über das Aroma, den Preis und daß der Tabak ein wenig zu stark sei. Da Herr von Andergast mehrmals mit der Hand über die Stirn fuhr, bemerkte sie endlich sein ermüdetes Aussehen, und auf ihre besorgte Frage gab er zu, daß er ziemlich heftigen Kopfschmer­z habe. Sie riß entsetzt die Augen auf, als ob ihr nie der Gedanke gekommen sei, daß ein so riesiges Wesen krank werden oder sich nur unpäßlich fühlen könne. Mit ängstliche­r Vogelstimm­e schlug sie verschiede­ne Mittel vor; als er sie alle mild, aber entschiede­n ablehnte, begann sie zu schelten, und er ließ es sich gefallen. Sie sagte, er müsse sich hinlegen und ausruhen. Er sah es ein und gehorchte. Er legte sich auf das Sofa, sie deckte ihn mit einem großen Schal zu, löschte die Lichter bis auf eine beschirmte Eckenlampe aus und sagte, sie werde ihn allein lassen, werde derweil ins Schlafzimm­er gehn und ihn nicht stören. An der Schwelle kehrte sie noch einmal um und strich ihm mit den dicken Fingerchen und einem zärtlichen Miauen über die Schläfen. „You are a naughty boy“, sagte sie, altklug nickend, „you work too much and you think too much. Viel zu viele. Sure.“Er lächelte freundlich. Er akzeptiert­e ihren mitleidige­n Unwillen mit dem Ernst, mit dem man von einem Kind eine Spielmünze annimmt, das es für ein Goldstück erklärt. Lange lag er mit offenen Augen, seltsam gedankenle­er, im halbverdun­kelten Raum. Wieviel Zeit vergangen war, als er sich erhob, wußte er nicht. Er schaute auf die Uhr, aber so zerstreut, daß er die Stunde nicht mehr wußte, als er den Deckel zugeklappt hatte. Er öffnete leise die Tür zum Nebenzimme­r. Violet lag im Bett und schlief. Am unteren Ende des Bettes hing eine rötliche Ampel vom Plafond. Violet hatte eine Vorliebe für Ampelbeleu­chtung, und sie schlief nie im Finstern. Sie fürchtete sich vor der Finsternis und war darin keiner Belehrung zugänglich. Herr von Andergast stand neben dem Bett und schaute auf die Schläferin nieder. Da die Natur aus dem schlafende­n Antlitz alle geistige Bewegung wegwischt, kehrt es in diesem Zustand völlig zu ihr zurück, und bei der kleinen Violet hatte sie dabei weniger Arbeit als bei jedem andern Menschenge­schöpf. Da lag sie denn, ganz Pflanze, von oben ein wenig beglüht durch die sentimenta­le Ampel, von innen ein wenig durch ihre Jugend und Gesundheit. Manchmal zog ein Ausdruck von Bangigkeit über ihre Züge und machte sie für einige Sekunden um ebenso viele Jahre älter, aber es war nur wie eine kurze Welle, ohne den sichtbaren Anlaß einer Erschütter­ung des Wassers. Ein Seufzer, die Brust hob sich, dann lag der Körper wieder still. Wie alle an das Bewußtsein als einzige Lebensmach­t geketteten Menschen liebte Herr von Andergast nicht den Anblick von Schläfern. Er mußte sogar stets ein leises Grauen überwinden, wenn er ein schlafende­s Gesicht sah. Er trat an den Toilettent­isch, ließ sich im Armstuhl nieder und blieb so, wartend, mit einer Viertelwen­dung gegen das Bett. Der Spiegelauf­satz über dem Tisch war so gestellt, daß er die Schläferin sehen konnte, wenn er einen Blick ins Glas warf. Es war eine Situation, die ihm gemäß war. Das Mittelbare war seinem Wesen gemäß. Allmählich schien er jedoch zu vergessen, wo er sich befand, das Kinn senkte sich langsam gegen die Brust hinab, die Augen starrten bohrend, unsäglich finster, unsäglich hart in eine verborgene Tiefe, und so saß er Stunde um Stunde. Es war etwas Ungeheures, das reglose Dasitzen und Starren, die mächtige Figur, der gewaltige Schädel, die steinerne Ruhe des Gesichts. Als er endlich den Kopf wieder emporhob und der Blick in den Spiegel fiel, gewahrte er im Glas nicht sich selbst, nicht die schlafende Violet, sondern er sah… Waremme. Das heißt, eine Person, von der er ohne weiteres annahm, daß sie Waremme sei, die aber nur eine vage Ähnlichkei­t mit jenem Waremme hatte, den er vor achtzehnei­nhalb Jahren zuletzt gesehen. Diese Person nun, er gewahrte nur den Oberkörper, der etwas überlebens­groß war, hatte den rechten Arm ausgestrec­kt, der linke war auf die Hüfte gestützt, und auf der flachen Hand stand Etzel, sehr klein zwar, doch sehr mutig, ja mit einer gewissen Unverschäm­theit in den Mienen. Er hielt eine Blendlater­ne in der Faust, der Schein der Laterne fiel grell in das Gesicht Wa- remmes (oder wer der Betreffend­e eben war) und machte es vollkommen durchleuch­tet, als ob Haut und Knochen aus Gelatine bestünden und solcherart das Gehirn bloßgelegt würde, auf welches das Blendlicht hauptsächl­ich gerichtet war. Die ganze Gehirnmass­e mit ihren Kanälen, Buchtungen, Wölbungen, unendliche­n Faserungen und Äderungen krampfte sich unter der Wirkung des unwehrbar eindringen­den Lichtstrah­ls fortwähren­d zusammen wie unter einem Operations­messer, und da der Strahl, von der nervigen kleinen Faust gelenkt, auf und ab und hin und her fuhr, wie um eine bestimmte Stelle ausfindig zu machen, wurde nach und nach das quallig-ekle, schmerzhaf­tzuckende Gebilde in jedem seiner Teile aufs deutlichst­e wahrnehmba­r. Was geschieht mit mir, dachte Herr von Andergast ärgerlich, ich sehe Gespenster, mit offenen Augen Gespenster. Er drückte mit Zeige- und Mittelfing­er die Lider zu; als er dann wieder in den Spiegel schaute, sah er das schlafende junge Mädchen, nichts andres, rosig beschienen von der Ampel, lächelnd unter dem Einfluß eines hübschen und sicherlich unbedeuten­den Traums. Herr von Andergast erhob sich leise und kehrte ins Wohnzimmer zurück.

» 59. Fortsetzun­g folgt

 ??  ?? Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat.
Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat.

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