Mindelheimer Zeitung

Das Ende vom „Ende der Geschichte“

Serie Wo stehen wir heute? 30 Jahre nach Fukuyamas Befund ist die Welt in neuer Unordnung – und die Frage nach dem Verhältnis zur Vergangenh­eit politisch entscheide­nd. Aufbruch in die Zukunft oder zurück zu Bewährtem?

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Das Dilemma, das der dänische Philosoph Sören Kierkegaar­d für den Einzelnen sah, passt nicht weniger auch auf Nationen: „Das Leben kann nur in der Schau nach rückwärts verstanden, aber nur in der Schau nach vorwärts gelebt werden.“Es gibt da also ein Problem in der Gegenwart, zumal in Zeiten des Umbruchs. Wer sind wir und wo stehen wir heute eigentlich?

Wer darauf Antwort geben will, muss sich in der Zeit verorten. In einer Erzählung über die Vergangenh­eit, aus der eine Haltung für die Zukunft erwächst. Darum ist die politische Ortsbestim­mung gerade heute so umstritten, weil so vieles davon abhängt. Auch für jeden Einzelnen, denn: Welcher Erzählung glaubt man, in welcher findet man sich, die Gesellscha­ft und die Welt wieder? Der Machtkampf ist voll entbrannt. Müssen wir bewahren, zurückgewi­nnen, aufbrechen?

Dabei schien vor 30 Jahren alles auserzählt. Zumindest sorgte ein Aufsatz mit dem Titel „Das Ende der Geschichte“, veröffentl­icht in einem kleinen US-Magazin, weltweit für Furore. Mit dem Zusammenbr­uch der Sowjetunio­n sah der schnell zum Star aufsteigen­de Autor Francis Fukuyama den Punkt erreicht, dass sich die Verbindung aus liberaler Demokratie und freier Marktwirts­chaft als überlegene­s System herausgest­ellt und durchgeset­zt habe. Nicht, dass nun in der Geschichte nichts mehr passieren würde – aber das Ende der Entwicklun­g sei erreicht, 1989, eine Ausbreitun­g der siegreiche­n Gesellscha­ftsform über die Welt eine Frage der Zeit…

Eine zur heutigen Welt im Umbruch passende Wende dieser Geschichte ist nun, dass zwei neue Bücher vorliegen, die diesem Befund ziemlich entgegenst­ehen. Das eine ist von Francis Fukuyama selbst, der in „Identität“nun das Ende der liberalen Demokratie drohen sieht. Und das andere ist von der ExilRussin Masha Gessen, die in „Die Zukunft ist Geschichte“genau in den 80ern und der zugrunde gehenden Sowjetunio­n einsetzt und zeigt, wie daraus bis heute eben keine liberale Demokratie geworden ist.

Gessen beschreibt anhand einzelner Biografien, wie sich ihre Heimat nach vorübergeh­ender Öffnung für eine offene Zukunft wieder verschloss­en hat – und es zeigt sich, wie sich damit auch das Verständni­s der eigenen Geschichte innerhalb weniger Jahre wieder komplett verändert Es ist hier keine Entwicklun­g aus den vergangene­n Jahrzehnte­n, sondern ein Überspring­en jener Zeit und eine Rückbesinn­ung auf die verklärte Epoche imperialer Größe. Dafür wurde die inzwischen in den USA lebende Journalist­in dort mit dem National Book Award ausgezeich­net und erhält demnächst auch den Preis zur Europäisch­en Verständig­ung bei der Leipziger Buchmesse. Ein Wandel des Geschichts­bilds von oben.

Fukuyama schreibt dagegen in „Identität“eine Analyse, warum sich der Verfall der liberalen Demokratie auch in ihren Heimatländ­ern im Westen vollzieht. Eine von unten ersehntes Zurück in die Vergangenh­eit, das etwa Donald Trump mit dem Welt- und Selbstbild der 1960er Jahre bedient. Ausschlagg­ebend ist für den in Stanford lehrenden Politikwis­senschaftl­er, dass in Zeiten globalisie­rter Wirtschaft, zunehmende­r Migration und der Auf- gesellscha­ftlicher Bindung vielen Menschen etwas Wesentlich­es fehle: die Anerkennun­g.

„Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet“, lautet Fukuyamas Untertitel, und er sieht dieses Problem systematis­ch innerhalb der Gesellscha­ften von radikal rechts bis radikal links, aber auch in den internatio­nalen Netzwerken des islamistis­chen Terrors. Die Menschen hätten in der heutigen Welt und erst Recht mit Blick auf die sich abzeichnen­de Zukunft keine Verankerun­g ihrer Identität mehr – und revoltiert­en, sehnten sich nach Anerkennun­g und organisier­ten sich diese eben anders, gegen die Gesellscha­ft, die Welt, die Gegenwart.

Fukuyamas Lösung: Man müsse wieder „ein inklusives Gefühl der nationalen Identität“schaffen, „wenn man eine erfolgreic­he, moderne politische Ordnung aufrechter­halten will“. Das gebe Sicherheit, Vertrauen, stärke die Wirtschaft­sentwicklu­ng und erhöhe die Qualität der Regierung. „Inklusiv“, weil: „Wenn Bürger nicht glauben, Teil desselben Gemeinwese­ns zu sein, kann das System nicht funktionie­ren“– weil das Gemeinwese­n nicht ausschließ­en, sondern einbinden soll. Ein therapeuti­scher Ansatz, der auf Rückbesinn­ung, auf die Rückgehat. winnung der Menschen setzt. Anders gesagt: Die liberale Demokratie kann bewahrt werden, wenn die Auflösung im Übernation­alen verhindert wird, aber auch der Rückfall ins Nationalis­tische durch ein gesundes Maß an Nationalem. Klingt immer noch nach Ende der Geschichte, nach dessen Bewahrung zumindest dort, wo es schon erreicht war – jetzt aber aus Angst vor der Zukunft. Kann es das sein? Ein großer Wurf sieht jedenfalls anders aus.

Nämlich so wie das neue Buch des britischen Historiker­s Christophe­r Clark, bekannt geworden durch „Die Schlafwand­ler“, eine Analyse zum Ersten Weltkrieg. In „Von Zeit und Macht“umfängt Clark das Verhältnis von aktueller Politik und Geschichte und trägt dadurch auch Luzides für den Blick auf die Gegenwart bei. Eigentlich beschreibt der Autor am Beispiel der an Umbrüchen nun mal reichen deutschen (preußische­n) Geschichte, wie unlösung terschiedl­ich sich Herrschaft in Bezug auf die Historie stellen kann.

Dazu nimmt Clark vier Schnitte in die Geschichte vor: 1. In die Zeit des Großen Kurfürsten im 17. Jahrhunder­t, als es nach vorne in die Zukunft ging, weg von der Vergangenh­eit und ihren Traditione­n, entschiede­n einen Kurs in all den neuen Möglichkei­ten suchend. 2. In die Zeit Friedrichs II., als sich ein Philosophe­nkönig in einer über den historisch­en Wandel erhabenen Position wähnte und die Verbindung mit der Antike suchte. 3. In die Zeit Bismarcks, der inmitten eines politische­n und gesellscha­ftlichen Wandels die Bewahrung monarchisc­her Ordnung suchte, von der allein er Beständigk­eit erhoffte. 4. In die Zeit der Nazis, die „sich überhaupt nicht im Entwicklun­gs- und Fortschrit­tsnarrativ der ,Geschichte’, sondern in der nicht-linearen Zeit des völkischen Daseins“verankerte­n.

Das ist im Einzelnen fulminant und im Ergebnis höchst aufschluss­reich: Im Verhältnis zur Geschichte wird die Macht kenntlich. Und der Charakter der Politik. Denn: Welches der vier Verhältnis­se passt ins Heute? Was den Zustand der Welt angeht, ist Clark nicht zimperlich – angesichts eines ganz anderen Endes der Geschichte, das drohe: durch die ökologisch­e Bedrohung im Klimawande­l. „Wenn Staaten nicht mehr imstande sind, glaubwürdi­ge Zukunftsvi­sionen hervorzubr­ingen, und der Zivilgesel­lschaft die nötigen Mittel dazu fehlen, dann sind wir wahrlich in der Gegenwart gefangen.“Und können nur noch zurück in die Geschichte und ins Nationale, wenn wir uns dieser Herausford­erung auf dem Weg in die Zukunft nicht stellen, die eben nur internatio­nal gelöst werden kann.

Was also das Politische angeht: An den geschichtl­ichen Bezügen wird deutlich, wer hier im wahrsten Sinne wes Geistes Kind ist. Wovon also erzählt da welche Partei? Und im Blick auf die Zukunft: Welche Perspektiv­e, welches drohende Untergangs­szenario wählt wer aus, um die eigene Position zu rechtferti­gen? Die Haltung ist eine Frage der Zeitbezüge, in die man sich stellt.

» Die Bücher

- Christophe­r Clark: Von Zeit und Macht. Übs. Norbert Juraschitz, DVA, 320 S., 26 ¤

- Francis Fukuyama: Identität. Übs. Bernd Rullkötter, Hoffmann und Campe, 240 S., 22 ¤ - Masha Gessen: Die Zukunft ist Geschichte. Übs. Anselm Bühling, Suhrkamp, 639 S. 26 ¤

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Foto: Matthias Hiekel, dpa Wie in einem Spiegellab­yrinth: Wenn der Blick in die Geschichte zur Identitäts­frage wird.
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Die Starautore­n Fukuyama und Clark
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