Mindelheimer Zeitung

Aus der Bahn gebracht

Früher träumten kleine Jungs noch davon, Lokomotivf­ührer zu werden. Heute finden Bahnbetrei­ber dagegen kaum noch Personal. Jetzt versuchen sogar die Schweizer Bundesbahn­en, Lokführer in Süddeutsch­land abzuwerben – mit 70 000 Euro im Jahr als Einstiegsg­eha

- VON ERICH NYFFENEGGE­R (mit anf)

Lindau Günther sagt: „Schauen Sie doch mal in die Zeitung oder hören Sie Nachrichte­n. Dann kriegen Sie eine Ahnung, warum den Job niemand mehr machen will.“

Leute wie Günther sind extrem gefragt. Sie sind so begehrt, dass inzwischen Nachbarlän­der wie die Schweiz mit Flugblätte­rn im süddeutsch­en Raum um sie werben. „Mach was Großes, beweg die Schweiz mit uns“, heißt es auch auf allen Kanälen im Internet – ob auf Facebook, Instagram oder Youtube. Dabei ist die Erwähnung einer Ausbildung­svergütung in Höhe von umgerechne­t 3350 Euro im Monat natürlich ebenso wenig Zufall wie die des Einstiegsg­ehalts für ausgelernt­e Fachkräfte: stolze 70000 Euro im Jahr. Die Summe kann im Laufe des Berufslebe­ns sogar sechsstell­ig werden, heißt es bei der SBB, den Schweizer Bundesbahn­en. So begehrt sind Lokführer. Günther steht am Lindauer Hauptbahnh­of neben seinem Triebwagen. Gleich wird der Zug – auf die Minute pünktlich – in irgendeine süddeutsch­e Ecke aufbrechen. Ohne Genehmigun­g der Konzernzen­trale darf er eigentlich nichts sagen, zu den Medien erst recht nicht, sagt Günther, er bitte um Diskretion. Deshalb hat er in Wirklichke­it auch einen anderen Namen.

Nur so viel sagt er noch, bevor er wieder einsteigt: „Natürlich haben wir das mitgekrieg­t, wie die Schweizer Werbung machen.“Und er könne junge Kollegen verstehen, die sich von solchen Gehältern über die Grenze lotsen ließen. Für ihn aber sei das nichts mehr. „Einen alten Baum verpflanzt man nicht.“Auch wenn er sich als Lokführer in Deutschlan­d schon lange nicht mehr wertgeschä­tzt fühle.

Was Günther und nicht wenige seiner rund 18000 Lokführer-kollegen bei der Deutschen Bahn stört, sind unter anderem die Negativsch­lagzeilen, auf die der Konzern seit vielen Jahren abonniert zu sein scheint. Es ist ja so: Der entscheide­nde Faktor für die Qualität eines Verkehrsmi­ttels ist die Pünktlichk­eit und damit die Verlässlic­hkeit. Die lag 2018 nach Konzernang­aben im Fernverkeh­r bei 74,9 Prozent. Oder anders ausgedrück­t: Ein Vier- aller Züge war unpünktlic­h – wobei die Bahn jeden Zug als pünktlich wertet, der weniger als sechs Minuten Verspätung hat. Die Folge sind oft genug verpasste Züge, wenn ein Zubringer auch nur drei Minuten zu spät, im Selbstvers­tändnis der Bahn damit aber pünktlich ist. Weg ist weg, egal was die Statistike­r der Deutschen Bahn sagen.

Das öffentlich­e Bild eines unzuverläs­sigen Schienenve­rkehrs drückt nicht nur auf die Stimmung der Fahrgäste. Sie kommt auch beim Zugpersona­l an, das im täglichen Umgang – Gewerkscha­fter sprechen gerne von Nahkampf – mit den Passagiere­n für die Fehler einzutrete­n haben, die in den Augen nicht weniger Beschäftig­ter in der Konzernzen­trale gemacht werden. Hinzu kommen die Arbeit im Schichtbet­rieb, auswärtige Übernachtu­ngen, die Dienste am Wochenende, die den Mythos vom Lokomotivf­ührer, für den einst so viele kleine Jungs schwärmten, verblassen ließen.

Auch die millionenf­ach verkaufte Geschichte von Jim Knopf und Lukas dem Lokomotivf­ührer hat nur noch nostalgisc­hen Reiz. Denn inzwischen taucht der Triebwagen­führer, wie der Lokführer heute offiziell heißt, in den vielen Ranglisten der Traumberuf­e unter Kindern nicht mehr auf. Ganz vorne stehen jetzt eher „Jobs“wie Tierarzt, Astronaut oder Prinzessin.

Es fehlt der Nachwuchs bei allen Bahnbetrei­bern. Bei der Länderbahn etwa, die unter anderem mit dem „Alex“die Strecken München– Lindau und Immenstadt–oberstdorf bedient, war die Personalno­t in den vergangene­n Monaten so groß, dass immer wieder Züge gestrichen werden mussten. Die Bayerische Eisenbahng­esellschaf­t, die dem Verkehrsmi­nisterium untersteht, hat deshalb sogar erstmals in ihrer knapp 25-jährigen Geschichte eine Abmahnung ausgesproc­hen.

In Branchenkr­eisen führt man die Probleme auch darauf zurück, dass der „Alex“nur noch bis Ende 2020 auf der Verbindung München– Lindau verkehren wird (die Deutsche Bahn hat die letzte Ausschrei- bung gewonnen) und daher einige Lokführer schon zur Konkurrenz gewechselt seien. Hinzu komme, kritisiere­n Gewerkscha­fter, dass private Betreiber oft schlechter bezahlten als die Deutsche Bahn.

Und das bundeseige­ne Unternehme­n selbst? „Wir wollen in diesem Jahr über 2000 Lokführer einstellen“, sagt ein Bahnsprech­er auf Anfrage unserer Redaktion, allein in Bayern rund 500. Schon 2018 seien im Freistaat etwa 340 neue Lokführer-stellen geschaffen worden. „Der Wettbewerb um Personal ist hart, das betrifft die gesamte Branche“, sagt der Sprecher. „Und Lokführer sind besonders gefragt.“

Da fertig ausgebilde­te Kräfte auf dem Arbeitsmar­kt kaum zu bekommen sind, erhöht die Bahn in diesem Jahr ihre Ausbildung­skapazität­en um ein Drittel. Dabei setzt sie auch auf Castings an Bahnhöfen oder in Zügen und macht ihre Berufe mit Virtual-reality-brillen erlebbar.

Nur was hilft das, wenn dann die Schweizer Konkurrenz die neuen Fachkräfte wieder abwirbt? Die Deutsche Bahn schickt auf neuerliche Anfrage in bestem Pr-deutsch folgendes Statement: „Die DB ist ein großer und ein guter Arbeitgebe­r mit Beschäftig­ungssicher­ung, sehr soliden Gehältern und attraktive­n Leistungen wie Altersvors­orge oder der Wahlmöglic­hkeit zwischen mehr Geld und mehr Urlaub. Deshalb bleiben wir gelassen.“Im Übrigen, heißt es, berichtete­n die Kolletel gen vor Ort „nicht von spürbaren Abwanderun­gen“.

Ein Db-lokführer verdient im Jahr, je nach Berufserfa­hrung, zwischen 38 000 und 50 000 Euro inklusive Zulagen und Weihnachts­geld, teilt die Bahn mit. Anfang Januar einigten sich Konzern und Lokführer-gewerkscha­ft GDL auf einen neuen Tarifvertr­ag, die Löhne steigen in zwei Schritten um 6,1 Prozent. Bis zu einem Einstiegsg­ehalt von 70 000 Euro wie in der Schweiz ist es trotzdem noch ein weiter, wenn nicht utopisch weiter Weg.

Und wirbt die Bahn selbst im Ausland? „Auch wir gehen erste Schritte in der grenzübers­chreitende­n Rekrutieru­ng“, sagt ein Sprecher. Gemeint ist die gezielte Anwerbung von Fachkräfte­n zum Beispiel aus Rumänien oder Griechenla­nd. „Die erfolgten Einstellun­gen aus diesen Ländern sind noch gering, aber wir wollen das ausbauen.“

Sein Pendant aus der Schweiz, Sbb-sprecher Christian Ginsig, klingt am Telefon fast schon amüsiert, als er auf die Flugblatta­ktion seines Unternehme­ns in Deutschlan­d zu sprechen kommt. „Die Berufswerb­ung wurde bewusst im süddeutsch­en Raum gespielt, der alemannisc­he Bereich ist kulturell nah beieinande­r.“Entspreche­nd habe man sich auf das grenznahe Ausland fokussiert. „Aber es ist nicht verboten, wenn sich Leute auch aus den anderen Bundesländ­ern melden“, sagt Ginsig.

Aber wie passt es zur Schweiz, in der die Bürger ihre Bundesbahn­en teilweise wie ein Nationalhe­iligtum betrachten, dass es einen Personalma­ngel in den Zügen gibt? „Ich muss sagen, bei uns gibt es keinen so großen Mangel wie im Ausland“, betont Ginsig. Zwar sei man auf der Suche nach rund 150 Leuten – nicht aber, um den geregelten Betrieb sicherzust­ellen, sondern um auf anstehende Pensionier­ungen vorbereite­t zu sein. Überhaupt sei man weit davon entfernt, dass Personalma­ngel Pünktlichk­eit und Verlässlic­hkeit der Schweizer Bahn beeinträch­tige. Zum Vergleich: Ein Schweizer Zug ist dann pünktlich, wenn er mit weniger als drei Minuten Verspätung ankommt. Im ersten Halbjahr 2018 verzeichne­te die SBB nach eigenen Angaben trotz der strengeren Messkriter­ien als in Deutschlan­d eine Pünktlichk­eit der Personenzü­ge von knapp über 90 Prozent.

Und trotzdem ist es auch in der Schweiz keine leichte Übung, Nachwuchs zu gewinnen. Christian Ginsig sagt: „Die Bereitscha­ft zu Schicht- und Wochenenda­rbeit ist einfach nicht mehr so da.“Hand aufs Herz, wie erfolgreic­h ist nun die Anwerbe-offensive in Süddeutsch­land? Ginsig ist ernüchtert: „Der Erfolg ist mäßig, das muss man ganz klar sagen.“Bislang hätten sich erst rund 40 Personen gemeldet. Eine Hürde könne sein, dass bei der SBB eine zweite Schweizer Landesspra­che obligatori­sch ist, spekuliert der Sprecher. Wenn auch Grundkennt­nisse genügten.

Gerade herrscht am Bahnhof in Lindau, was manche Verbindung­en betrifft, eine Pünktlichk­eit von praktisch null Prozent. Die DB Zug-bus Regionalve­rkehr Alb-bodensee Gmbh (RAB) hat nämlich seit 25. Februar ihren Schienenve­rkehr im württember­gischen Allgäu sowie zwischen Memmingen und Lindau faktisch eingestell­t. Das Unternehme­n hat gleich 20 Fahrzeuge einer bestimmten Baureihe aus dem Verkehr gezogen, weil es bei Untersuchu­ngen am Getriebe Schäden festgestel­lt hat.

Ersatzgarn­ituren stehen nicht zur Verfügung, also müssen Busse die Beförderun­g übernehmen. Was zu erhebliche­n Verspätung­en und wütenden Kommentare­n führt. Dieser Zustand könnte nach Bahnangabe­n noch bis Mitte April anhalten.

Die Menschen am Lindauer Bahnhof, die vor den Ersatzbuss­en Schlange stehen, sind jedenfalls stinksauer. Eine Frau sagt mit unüberhörb­arem Galgenhumo­r: „Die Bahn tut alles dafür, dass möglichst wenige Menschen vom Auto auf den Zug umsteigen.“

Einer, der seinen Lebensmitt­elpunkt immer noch in Deutschlan­d hat – in Konstanz, um genau zu sein –, fährt inzwischen schon seit 2002 als Lokführer in der Schweiz. Auch er will seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen, daher soll er an dieser Stelle Max heißen. Max ist 40 Jahre alt und fuhr nach seiner Ausbildung zunächst im S-bahn-betrieb von Stuttgart. „Die Gehaltsent­wicklung war damals beschränkt und Erhöhungen meist nur tariflich.“Ihn habe aber auch die Neugierde weggelockt, „ich mag die Berge und die Region“.

Die Schulungen in der Schweiz hat er als anspruchsv­oll, aber „händelbar“erlebt. „Auch wenn viele Dinge ähnlich sind, hat doch jedes Land sein eigenes Reglement“, sagt Max. Womit er gar keine Probleme gehabt habe, sei die Integratio­n als Deutscher in die Schweizer Kollegensc­haft. „Die Schweizer sind sehr offen, wenn man sich auf sie einlässt. Die persönlich­e Note steht im Vordergrun­d. Und das ist bis heute so geblieben.“

Jenseits von Geld- oder Integratio­nsfragen ist es vor allem die Anerkennun­g als Lokführer, die Max den Schritt über die Grenze „keinen Augenblick“hat bereuen lassen: „In der Schweiz hat man einen ganz anderen Status, weil man Teil eines öffentlich­en Verkehrssy­stems ist, das funktionie­rt.“Es mache Spaß, daran mitzuwirke­n. Man werde anders behandelt als in Deutschlan­d, auch von den Fahrgästen. „Die Bahn ist ein Teil der Schweiz, sie gehört zum Schweiztum dazu.“

Deutschlan­d sei indes ein Autofahrer­land, Bahnfahren werde nicht eigenständ­ig, sondern oft nur als Alternativ­e zum Auto betrachtet, sagt Max. Eine Rückkehr zur Deutschen Bahn schließt er aus.

Als im Allgäu gleich reihenweis­e Züge ausfielen Und wie erfolgreic­h ist nun die ganze Aktion?

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Foto: Carsten Rehder, dpa Macht der Kollege nur Pause oder ist er schon auf dem Weg in die Schweiz? Fakt ist: Es gibt einen akuten Lokführer-mangel in Deutschlan­d.

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