Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (66)
Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchieren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwalt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlich ereignet hat. © Projekt Gutenberg
Eines Tages machte ihm ein geschminkter Jüngling einen zärtlichen Antrag; als er begriffen hatte, versprach er, sich die Sache zu überlegen. Wenn sein Innerstes bewegt war, konnte er aussehen wie ein Kasperle; wenn er es mit einem zornigen Menschen zu tun hatte, machte er ein Gesicht wie eine alte Kinderfrau, die einen Säugling beschwichtigen muß. Keine Entartung erstaunte, keine Niedrigkeit verletzte ihn, keinem Laster bezeigte er Abscheu, und selbst der Anblick eines Verbrechens hätte vermutlich keinen Zug in seinem friedlich lächelnden Antlitz verändert. So sehr hatte er sich in der Gewalt.
Es war wie das Spiel von einem, der hinter seinem eigenen Rücken agiert, und so verdächtig ihm alle Romantik war, so verwerflich alles Traumwesen, etwas davon, Rudimente, nehme ich an, kam doch bei alledem zum Vorschein, wenn auch oft nur in Form von Widerstand; im Grunde war es eben derselbe Etzel,
den seine Großmutter, die Generalin, als er drei Jahre alt war, beobachtet hatte, wie er auf dem Teppich sitzend und einen Suppenlöffel in der Hand sich bemühte, den Sonnenschein zu essen, der in einem durchleuchteten Staubband ins Zimmer fiel, und dann, als er die Lauscherin bemerkte, den Löffel wütend und beschämt in den Kohleneimer schleuderte.
Wie der durchgebrannte Onkel heiße, wurde gefragt. Mohl heiße er, gleichfalls Mohl. So? Mohl? meldete sich ein Zigarrenagent, im Matthäuskeller habe er von einem Mohl gehört. Ein anderer verwies ihn auf den sogenannten „Halbseidenen“, der im Marburger Loch als Stammgast verkehre, der sei eine wandelnde Auskunftei, es gebe in ganz Wedding keine Seele, die er nicht kenne und deren Lebenslauf er nicht wie am Schnürchen herzusagen wisse. Ein dritter Ratgeber, ein Mensch mit quittengelbem Teint und einer Narbe über dem linken Auge, der irgendwelche Be- ziehung zur Marine gehabt haben sollte, empfahl ihm, er solle einmal im Wintergarten, in einigen Tanzdielen und bei verschiedenen Buchmachern nachfragen, in neunzig von hundert derartigen Fällen habe auch der Besuch eines gewissen Kaffeehauses in der Nähe des Alexanderplatzes Erfolg. Ferner nannte er ihm mehrere Gasthöfe in der Oranienburger, Elsässer und Lothringer Straße, wo gewöhnlich Leute logierten und bei drohender Gefahr rasch von einem ins andere wechselten, die der Öffentlichkeit ihre „Schmalseite zu zeigen wünschten“.
Man habe, lehrte er unter respektvollem Schweigen der Tafelrunde, zu unterscheiden zwischen vornehmen, halbvornehmen, kleinbürgerlichen und proletarischen Zufluchtsorten, man müsse wissen, was ein Asyl, eine Herberge, ein Keller sei. Wer unter Polizeiaufsicht stehe, wähle natürlich eine andere Unterkunft, als wer eines Verbrechens wegen verfolgt werde; jenen könne man in geringer Tiefe loten, diesen erst in größerer; einer, der nur für eine Weile verschwinden wolle, entferne sich nicht weit vom Oberwasser und sei gewöhnlich leicht stellig zu machen, auch wenn er unter falscher Flagge segle, was beim Onkel Mohl immerhin zu befürchten sei.
Manchmal führe die Erkundigung bei Damen rasch zum Ziel („frage nur bei edlen Frauen an“, zitierte er meckernd), so habe er neulich einen Burschen, in dessen Kielwasser er lange gesegelt, ohne ihn entern zu können, dadurch erwischt, daß er sich an die Weißenseer Salome in der Landsberger Straße gewendet habe.
Etzel zollte dem Redner für die ausgiebige Unterweisung begeisterten Dank. Um nun auch sein Licht leuchten zu lassen, entwickelte er vor dem verwunderten Auditorium, das nach dieser Glanzleistung nicht zögerte, ihn als entschieden „helle“zu bezeichnen, eine Art Popularphilosophie der sozialen Gruppierungen, indem er bewies, daß bei dem dichten Beieinander der Menschen innerhalb bestimmter Schichten und bei dem Übergang in die nächst höhere oder niedrigere Schicht jeder jeden kenne.
Jeder Schneider kennt zwanzig Schneider, jeder Händler zwanzig Händler, es gibt Geschwisterberufe, Vetternberufe, der Schlosser berührt sich mit dem Fahrradhändler, der Glaser mit dem Baumeister, der Bürovorstand übersieht zwei Dutzend Angestellte, der Kellner bedient täglich zweihundert Gäste, weiß von vielen nicht bloß den Namen, sondern auch die privaten Verhältnisse, das Ladenfräulein interessiert sich für die Kunden, weiß fast von jedem, wer er ist und was er treibt, die Chauffeure kennen die Leute, die in der Nähe ihres Standplatzes wohnen, die Trambahnschaffner kennen die Morgen-, Mittagsund Abendpassagiere, die meisten Menschen gehen immer zur selben Zeit durch dieselben Straßen, es kommt gar nicht darauf an, wieviel „Bekannte“einer hat, ob der Professor, der Abgeordnete, der Fabrikant zweitausend hat und der arme Student, der Hausierer, der kleine Bankbeamte, der entlassene Zuchthäusler nur fünfzig oder zehn, deswegen ist er doch von „Bekannten“umgeben, auf jeder Staffel seines Lebens ist ein „Bekannter“, der ihn auf die nächste Staffel zu einem andern „Bekannten“führt, jeder gehört zu seiner Schicksalsgilde.
Junge Menschen, wenn sie etwas Gescheites vorzubringen glauben, sprechen gern für die Galerie; von solcher Eitelkeit war Etzel ziemlich frei, er hatte einen andern Grund, mit erhobener Stimme zu sprechen und die Umsitzenden zu stillem Zuhören zu nötigen, er wünschte einfach, vom „Professor“gehört zu werden; und während er redete, paßte er auf jede Bewegung von Waremme-warschauer auf wie ein Luchs. Gesicht und Miene konnte er wegen seiner Kurzsichtigkeit nur undeutlich wahrnehmen, doch war ihm, als unterbreche der Mann seine Lektüre, um zu lauschen; und am Schluß seiner Ausführungen gewahrte er, daß jener das Gesicht ein wenig zur Seite wandte, wie wenn er herüberschielen wolle (er saß halbrechts gegen Etzel), und dann den hypertrophischen Unterkiefer eigentümlich malmend hin und her schob. Es sah genau so aus, als wolle er eine Wespe abwehren, sei aber zu faul, die Hand aufzuheben. Jetzt kennt er also meine Stimme, dachte Etzel, jetzt bin ich quasi ein „Bekannter“von ihm.
Nicht bloß, daß ihn seine Tischfreunde um mancherlei Besorgungen baten, zum Beispiel er solle beim Nachhausegehen den Umweg über den Linienkeller machen und einem dort wartenden Herrn, der so und so aussehe, dies und das ausrichten, oder er möge dem Fräulein Else Grünau, Gollnowstraße 27, sagen, Heinrich Balle könne sie am Abend nicht abholen, oder er solle in den Sportpalast hinaus (da habe er gleich das Geld für die Untergrundbahn), sich den Rennfahrer Paul rufen lassen und ihm mitteilen, wenn er bis vier Uhr nachmittags nicht das Bewußte abliefere, kriege er’s mit Christoph Jansen zu tun, und anderes mehr; auch Frau Bobike selbst betraute ihn mit gelegentlichen Botengängen.
»67. Fortsetzung folgt