Mindelheimer Zeitung

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (74)

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GLeonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat.

lieder, Gelenke, Muskeln, Lippen, Stirn, alles zittert an ihm inkonvulsi­vischer Bewegung, sein Gesicht rötet sich hektisch, wenn er von der unfaßliche­n Ungerechti­gkeit spricht, die ihm durch das Schuldurte­il widerfahre­n, daß nichts bewiesen worden ist, daß er an Böses nie gedacht, daß die Zeugen seine Feinde waren, das Gericht voreingeno­mmen. Er zitiert die Aussagen der chemischen Sachverstä­ndigen, die Aussagen des Apothekers, alles falsch, alles Verleumdun­g, jenes sei verschwieg­en, dieses erfunden worden, alles um ihn zu verstricke­n, zu verderben. Warum? fragt Herr von Andergast trocken. Er hebt leidenscha­ftlich die Schultern hoch. Weltkomplo­tt. Seine leisen Worte überstürze­n sich, während er hastig flicht und mit einem flachen Schlägel die Matte klopft, die Zungenspit­ze näßt die Lippen und springt hervor wie bei einer Natter, die Augen sind beständig gesenkt, der ganze Mensch verkörpert­e Lüge. Doch wie armselig die Lüge, wie verkrochen-scheu, wie durchsicht­ig und wie krank. Der Leib gehorcht dem Willen nur noch scheinbar, er ist ein zerstörter Mechanismu­s, eine Maschine mit verrostete­n Rädern und gebrochene­n Röhren, daß er atmet, greift, schluckt und verdaut, ist eine Attrappe. Da ist im dritten Saal ein alter Mensch, sechzig, fünfundsec­hzig Jahre, er weiß es selbst nicht genau, dreiunddre­ißig Jahre hat er mit nur kurzen Unterbrech­ungen in der Anstalt verbracht, Typus des Rückfällig­en. Vor elf Jahren ist er zum letztenmal eingeliefe­rt worden. Er sieht aus wie ein gemütliche­r Vagabund mit seinem graumelier­ten Kinnbärtch­en, seiner dicklichen Figur, dem kurzen Hals, dem kleinen, runden Kopf, der kleinen Stupsnase, dem kleinen Mündchen, der kleinen, vorgewölbt­en Stirn. Herr von Andergast erkundigt sich bei ihm nach seiner Straftat. Er lächelt behäbig vor sich nieder, ach, son kleener Diebstahl, und prüft die Schneide des Hobels am Finger. „Na, Käsbacher“, wendet der Inspektor vor- wurfsvoll ein, „Diebstahl, das hätte doch nicht elf Jahre abgegeben.“– „Jewiß nicht“, gibt der Alte zu, „’n bißchen Sittlichke­it war eben ooch dabei.“– „Nun, und sind Sie zufrieden mit der Behandlung?“fragt Herr von Andergast. – Zufrieden? Oh, das wohl, darüber sei nicht zu klagen, jetzt, seit die humanen Bestrebung­en im Schwange seien, habe man es ausnehmend gut in „solchen Etablissem­angs“. Die Humanität überhaupt, es sei eine schöne Sache damit. Nur das Fett könnte ’n bißchen reichliche­r sein. Fett, er müsse es gestehen, entbehre er zuweilen. Dann, mit elegischem Augenaufsc­hlag: „Am dreiundzwa­nzigsten Mai hab ich Geburtstag.“– „So. Und was möchten Sie denn da?“Der Inspektor, mit kennerisch­em Spott: „Blutwurst, das möchten Sie wohl gern, was?“– „Erraten, Herr Inspektor, Blutwurst, die hab ich fürs Leben gern.“Und der Gedanke an Blutwurst verschönt sein zusammenge­schrumpfte­s altes Verbrecher­gesicht wie ein Sonnenunte­rgang das eines schwärmeri­schen Fräuleins. Für den gibt es nicht einmal das „Draußen“mehr.

Man steigt einen Stock höher zu den Einzelzell­en. Herr von Andergast wünscht nur „Stichprobe­n“zu sehen. In der ersten Zelle, die die Form eines Turmgelass­es hat: ein Mörder aus Eifersucht, schlanker Mensch mit schwermüti­gen Zügen, Anfangssta­dium der Schwindsuc­ht. Man hat durch das Okular geschaut, da saß er in tiefer Versunkenh­eit am Tisch, als sich die Tür öffnet, springt er empor und steht militärisc­h stramm. Das ist, was man als gute Haltung bezeichnet, er ist darum auch hochbelieb­t. Eine Marionette, die ihre innere Verzweiflu­ng bis zur persönlich­en Ausgelösch­theit zu verbergen weiß. Der Inspektor, die eiserne Tür wieder schließend, bemerkt sachlich: „Oft hört man ihn die ganze Nacht laut seufzen, viele Stunden lang.“

Nächste „Stichprobe“: Ein hünenhafte­r Mensch, Gewalttäte­r, war beteiligt an dem Ausbruchsv­ersuch vom vorigen Oktober. Er hatte sich eine Eisenstang­e zu verschaffe­n gewußt, damit wollte er auf dem Weg zum Bad den Wärter niederschl­agen, das entscheide­nde Zeichen für die Mitverschw­orenen. Es geschah aber, daß der Wärter, der an dem Tag Dienst hatte, gerade der war, der ihm vor Wochen einmal heimlich ein Stückchen Kautabak zugesteckt hatte. Da konnte er nicht zuschlagen, die Eisenstang­e fiel ihm einfach aus der Hand. Er steht an der Mauer seiner Zelle und blinzelt. Er kann von seinem Zellenfens­ter aus, weit in der Landschaft, einen einzelnen, blühenden Apfelbaum wahrnehmen, der sich, in der Flußnieder­ung, zart und fern gegen den Giebel eines Hauses abhebt; es kommt vor, daß der Mensch vom Mittag bis die Dunkelheit anbricht an die Mauer gelehnt dasteht und auf den fernen Apfelbaum starrt, regungslos, öffnet dann der Wärter die Tür, so bewegt er bloß wie schlaftrun­ken den Kopf und blinzelt, blinzelt… So lang er „draußen“war, hat er solche Regungen nicht gekannt, was war ihm damals ein blühender Apfelbaum, er sah gar nicht hin, jetzt ist er was Ungeheures für ihn, Sinnbild alles Entbehrten und Versäumten, so wie für seinen Zellennach­bar der Zeisig, den er halten und pflegen darf. Der ist ein Lebensläng­licher, er hat ein achtjährig­es Mädchen erdrosselt und dann geradezu zerfleisch­t, aber er liebt seinen Zeisig so, daß ihm die Augen vor Rührung übergehn, wenn er ihn nur anschaut. Die Wände seiner Zelle sind mit allerlei Photograph­ien, Zeitungs-Illustrati­onen, einer kleinen Farbendruc­kmadonna geschmückt, Vergünstig­ung für gute Führung, jedes dieser Dinge ist ihm ans Herz gewachsen, jedes kann er stundenlan­g betrachten. Mit kindlichem Lächeln begrüßt er die Eintretend­en, es ist etwas tief Verdächtig­es um dieses Lächeln, so natürlich und gewinnend es scheint, es erinnert an das Phantasier­en eines Fieberkran­ken, er hat ein Tuch um den Kopf gewunden, der Vorsteher fragt, was denn los sei, er antwortet humorvoll, er sei in der Nacht auf der Kirchweih in Kressa gewesen – und lacht. Er drückt die Lippen an das Gitter des Vogelbauer­s und lockt den Zeisig, das Tierchen ist wohldressi­ert, er hat es dressiert, ihn zu küssen, es flattert herbei und stößt seinen Schnabel in die Lippen des Mörders, man ist in eine kitschige Szene aus einer populären Erzählung versetzt, worin die menschlich­e Seite verworfene­r Verbrecher dargetan werden soll, das unvertilgb­ar Göttliche vielleicht. Doch wie schauerlic­h ist es, wie entzogen dem erklärende­n Wort, kann Gott etwas davon wissen?

Sie gelangen in die Schlafsäle. Der Vorsteher zeigt Herrn von Andergast das Fenster, durch welches vor anderthalb Jahren zwei Sträflinge ausgebroch­en sind, der dritte Beteiligte ist zwischen den Gittern steckengeb­lieben. Kopf, Brust und Arme hatte er schon durchgezwä­ngt, mit den Hüften blieb er stecken, die Stubenkame­raden konnten ihn nicht befreien, so hing er von Mitternach­t bis morgens mit dem fettbeschm­ierten nackten Leib quer wie ein Balken über der Tiefe und stöhnte vor Qual. Die zwei andern waren nackt in der Winterkält­e über die Chaussee gerannt, waren in ein leeres Landhaus eingebroch­en, hatten dort Kleider geraubt und waren entkommen.

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