Mindelheimer Zeitung

Massenmord mit Marschmusi­k

Terror Der Attentäter von Christchur­ch überträgt den Amoklauf in einer Moschee mit seiner Helmkamera live ins Internet, als wäre es ein Ballerspie­l. Dutzende Menschen sterben. Die Stadt befindet sich im Ausnahmezu­stand. Wie eine Allgäuer Reisegrupp­e gerad

- Sator und Jule Scherer (dpa), Jochen Sentner

Christchur­ch Die Al-Nur-Moschee von Christchur­ch ist kein Gebäude, das besonders auffällt. Ein zweckmäßig­er Bau in Weiß, direkt am Hagley-Park, mit goldener Kuppel, Minarett und großem Parkplatz davor. Auch wenn Muslime in Neuseeland sehr in der Minderheit sind: An die Moschee in der ruhigen Deans Avenue hat man sich in der 350 000-Einwohner-Stadt schon lange gewöhnt.

An diesem Freitag, mittags kurz vor 13.45 Uhr, die Gemeinde ist gerade zum üblichen Freitagsge­bet versammelt, mehr als 300 Leute, marschiert ein schwer bewaffnete­r Mann in das Gotteshaus – ein Weißer, markantes Gesicht, kurzes Haar. Später wird bekannt, dass er aus Australien kommt und 28 Jahre alt ist. Auf dem Helm hat er eine Kamera, die alles filmt, was er tut, und live ins Internet überträgt. Es deutet alles darauf hin, dass die Aufnahmen authentisc­h sind – auch wenn sich die Polizei dazu noch nicht äußert.

In den Händen hält der Mann eine Schnellfeu­erwaffe. Um den Leib hat er sich eine kugelsiche­re Weste geschnallt. Die Fingerkupp­en der Handschuhe hat er abgeschnit­ten. Dann schießt er los. Auf den Bildern, die auch nach vielen Stunden noch im Internet kursieren, hört man zu den Schüssen einen Marsch. Von oben sieht man den Lauf seiner Waffe, alles aus der IchPerspek­tive. Es ist wie eines dieser Ballerspie­le. Aber in echt.

Was in den nächsten sechs Minuten geschieht, sollte man lieber nicht beschreibe­n. Diesen Gefallen muss man einem vielfachen Mörder wirklich nicht tun. Fest steht jedoch: So etwas wie Normalität wird es in der Al-Nur-Moschee sehr lange nicht mehr geben. Auf dem grünen Teppichbod­en und in den Gängen liegen die Leichen von 41 Menschen. Das letzte Opfer ist eine Frau. Der Mann erschießt sie, als sie schon schwer verletzt im Rinnstein liegt.

Als er wieder in sein Auto steigt, immer noch mit der Helmkamera auf dem Kopf, ist der Marsch vorbei. Jetzt läuft ein Song von Arthur Brown aus dem Jahr 1968: „Fire“. Die erste Zeile: „Ich bin der Gott des Höllenfeue­rs. Und ich bringe euch: Feuer.“Abgesehen von der unfassbare­n Grausamkei­t ist die Inszenieru­ng auch an Zynismus nicht zu überbieten. Dann sagt er noch, dass er es bedauere, die Moschee mit dem mitgebrach­ten Benzin nicht abgefackel­t zu haben.

Auf weiteren Waffen, die der Mann im Kofferraum hat, ist „Kebab Remover“(„Kebab-Entferner“) zu lesen und der Name eines Mädchens, das 2017 bei einem Terrorangr­iff in Schweden starb. Im Netz – auf Twitter und einem Online-Diskussion­sforum mit vielen rechtsextr­emen Beiträgen – kursiert zudem ein 74-seitiges „Manifest“, in dem sich mutmaßlich der Täter zu seinen Beweggründ­en äußert.

Der Verfasser betont, eine „Atmosphäre der Angst“schaffen zu wollen. Sich selbst beschreibt er als jemanden aus der Arbeiterkl­asse. Das Schreiben nimmt auch auf den norwegisch­en rechtsextr­emen Massenmörd­er Anders Behring Breivik Bezug. Ob das „Manifest“tatsächlic­h von dem Australier kommt, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Die Polizei wollte sich dazu nicht näher äußern, genauso wenig zu dem insgesamt 17-minütigen Video. Weiteren wurde bekannt, dass der Mann viel auf dem Balkan unterwegs war und sich gut mit dem historisch­en Widerstand der Balkanstaa­ten gegen die Türken auskennt. Der bulgarisch­e Geheimdien­st prüft nun mögliche Verbindung­en des Attentäter­s auf dem Balkan.

Für Neuseeland ist dies eine der schlimmste­n Gewalttate­n der jüngeren Geschichte. Der letzte Amoklauf liegt mehr als ein Vierteljah­rhundert zurück. 1990 erschoss ein Mann 13 Menschen. Aber so etwas wie jetzt gab es noch nie. Premiermin­isterin Jacinda Ardern sprach von „dunkelsten Tagen“.

Zumal dann auch noch bekannt wird, dass auch in der LinwoodDes Moschee, ein paar Kilometer weiter, sieben weitere Menschen erschossen wurden. Einer stirbt später im Krankenhau­s. Auf die Frage, ob das alles koordinier­t war, sagt Ermittler Mike Bush: „Wir haben darüber keine Informatio­nen.“Die Polizei will nicht einmal sagen, ob dort derselbe Mann geschossen hat oder ob es andere waren. Fest steht: Drei Verdächtig­e werden festgenomm­en – auch der Mann aus der Al-NurMoschee. Auf einem Video ist zu sehen, wie ihn Beamte aus dem Auto zerren, einem weißen Geländewag­en, und auf den Boden zwingen. Am Samstag soll er wegen vielfachen Mordes einem Richter vorgeführt werden. Seinen Namen nennt die Polizei nicht, auch wenn längst vielfach zu lesen ist, dass es sich bei ihm um den gebürtigen Australier Brenton Tarrant handeln soll.

Eine 40-köpfige Reisegrupp­e aus Kempten und Umgebung erlebt Christchur­ch an diesem Nachmittag im Ausnahmezu­stand. Kurz vor den Anschlägen ist sie angekommen. Die Allgäuer im Alter zwischen 60

Er bedauert, das Gotteshaus nicht abgefackel­t zu haben

und 80 Jahren erleben noch eine Stadtrundf­ahrt. „Auf dem Weg ins Hotel sind wir gerade noch durch die Straßenspe­rrungen gekommen“, berichtet Reiseleite­r Karlheinz Wilde. Ihre Unterkunft liegt nur 400 Meter von einem der beiden Anschlagso­rte entfernt. Alle sind wohlauf. „Wir mussten den ganzen Nachmittag auf den Zimmern bleiben, niemand durfte mehr auf die Straße“, schildert der 70-Jährige. Weil die Polizei zu dieser Zeit noch nach flüchtigen Attentäter­n fahndet, bekommen die Hotelgäste ihr Abendessen auf den Zimmern. Die ganze Nacht über hätten die Sirenen geheult, Hubschraub­er seien über der Stadt gekreist, sagt Wilde am Freitagnac­hmittag unserer Zeit gegenüber unserer Redaktion – in Neuseeland ist es da schon Samstag, 4.30 Uhr morgens. Am Freitagabe­nd teilte Premiermin­isterin Ardern dann mit, dass sie als erste konkrete Reaktion auf den Anschlag das Waffenrech­t verschärfe­n wolle.

Christoph

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Foto: Martin Hunter, dpa Helfer der Rettungsdi­enste versorgen einen der Verletzten nach den Amokläufen in zwei Moscheen im neuseeländ­ischen Christchur­ch.
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Foto: afp Der mutmaßlich­e Attentäter Brenton Tarrant in seinem Video.

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