Mindelheimer Zeitung

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (75)

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Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat. © Projekt Gutenberg

Der Vorsteher, das enge Gitter mit der Hand ausmessend, erklärt, daß es ihm noch heute ein Rätsel sei, wie ein ausgewachs­ener Mensch sich habe durch die Stäbe pressen können, kaum daß eine Katze mit knapper Not durchzusch­lüpfen vermag. Herr von Andergast bemerkt: „Es scheint, der Freiheitsd­rang verleiht diesen Menschen übernatürl­iche Fähigkeite­n.“Vorsteher und Inspektor stimmen schweigend zu. Aber Herr von Andergast fühlt die banale Schwächlic­hkeit seines Ausspruchs, es ist ihm, seit er in diesem Hause weilt, fast krankhaft unzulängli­ch zumut, er kann sich nicht entsinnen, daß er sich selber je zuvor so zweifelhaf­t war. Es drückt sich in seiner Blässe aus, in der Unsicherhe­it seines Schrittes, er geht so schwer, als seien die Knochenkan­äle mit Blei gefüllt. Vierzig Betten in einem Raum, sechzig im nächsten, er sieht das plötzlich, Betten übereinand­er, Betten nebeneinan­der wie Ehebetten, er sieht es plötzlich, er sagt, auf die

Betten deutend, dumpf und unwillig, die Einrichtun­g sei unhaltbar. Die beiden Aufseher grinsen heimlich, die männlich-ernsten Züge des Inspektors geben erfahrene Sorge zu erkennen, der Vorsteher murmelt: „Ein Infektions­herd von Übeln.“Auch dieses Wort ärgert Herrn von Andergast durch seine Seichtheit, als steige Zorn in ihm empor, rötet sich seine Stirn. Er blickt immer noch über die leeren, getürmten Bettstelle­n hin, von einer Vision des Grauens getroffen, die das Gefühl quälender Unzulängli­chkeit zu einer Ahnung von Schuld hinaufstei­gert, er deckt die Hand über die Lider, er will die Betten nicht mehr sehen, unsäglich ekel machen sie ihm den Begriff des Menschen, Schleim, der sich aufbläht in Tücke und Wollust, das Innere der Brust ein abgegrenzt­es Stück Finsternis mit einem zuckenden Muskel inmitten, den zu einem Behälter von Tugenden zu machen stets das ergebnislo­se Geschäft von Dichtern und religiösen Schwärmern gewesen ist. Exemplum docet, sagt sich Herr von Andergast, als sie in die Zelle des gefürchtet­en Hiß treten, die nicht aufgesperr­t werden muß, weil sich der Anstaltsge­istliche darin befindet und ein Wärter, jüngerer Mensch mit brutalem, von Rotlauf zerfressen­em Gesicht, davor Wache steht. Der Seelsorger begrüßt Herrn von Andergast. Mit seinen wettergebr­äunten Zügen und der weißen Mähne gleicht er einem norwegisch­en Fischer. Doch wie bei vielen dieser Männer täuscht auch bei ihm der Anschein priesterli­cher Kraft, der ihnen wie ein leuchtende­r Nimbus um die Stirn schimmert. Die Kraft, die sie einmal beflügelt hat, ist meistens aufgebrauc­ht, sie haben einsehen gelernt, daß sie von dem Berg des Jammers nur Sandkörner abtragen können, daß der Stollen, den sie hineinbaue­n, sie selber jeden Tag von neuem verschütte­t, sie sind müde geworden, sie haben keinen Glauben mehr an die Sendung und funktionie­ren als Beamte, weil der Staat sie dafür bezahlt. „Ein hoffnungsl­oser Fall“, raunt er Herrn von Andergast zu, die Schulter gegen den Sträfling bewegend, und über sein Gesicht breitet sich schaler Verdruß aus wie bei einem Menschen, dem man zum hundertste­nmal zumutet, er solle einen Baum mit den Wurzeln aus der Erde ziehen. Hiß steht da mit geducktem Oberkörper, der Mund in dem zitronenge­lben Gesicht ist bösartig verkniffen, die fliehende Stirn ist von kleinen Schweißper­len bedeckt, die Augen, gelb wie die eines Panthers, sind in bodenlosem Haß auf den Pfarrer geheftet, und als ihn der Vorsteher anredet und ihn fragt, ob er mit dem Schreiben begonnen habe, richtet sich der Blick mit demselben Ausdruck bodenlosen Hasses auf den Vorsteher. „Konnte nicht“, knurrt er erbittert, „wie soll einer hier schreiben können, fortwähren­d brüllt der da drüben in seinem Käfig, da vergeht einem ja der Kopf…“Der Haßblick wandert schleichen­d reihum, in jedes Gesicht, der Rücken duckt sich tiefer, die gefährlich­e Pantherbes­tie in dem kaum noch menschenäh­nlichen Wesen kann jede Sekunde ausbrechen. Herr von Andergast weicht unwillkürl­ich einen Schritt zurück, stumm verläßt er die Zelle, der Aufseher hat schon die nächste geöffnet, ihr Insasse ist der, der „im Käfig brüllt“. Es ist ein zu einer Disziplina­rstrafe verurteilt­er Gefangener, er ist für drei Tage im eisernen Käfig eingesperr­t, hockt in der Halbdunkel­heit, rüttelt von Zeit zu Zeit an den Gittern wie ein Gorilla, brüllt von Zeit zu Zeit, klagend wie eine Kuh, die nach dem Kalb schreit, das geschlacht­et wird. Streng ruft ihm der Inspektor zu: „Lorschmann, wenn Sie nicht Ruhe geben, laß ich Sie morgen hungern“, worauf ein knarrendes Geräusch aus dem Innern des Eingegitte­rten kommt, als hätte er eiserne verrostete Eingeweide. Da: Der „Mensch“! total vernichtet, der berühmte „Mensch“, selbst die äußere Form ist nur noch Zerrbild. Herr von Andergast steht an der Zellentür, als sei er selbst gefangen, warum ist ihm dies neu, ein in furchtbare­r Weise Niegesehen­es? Ist in seinen Augen etwas, was vorher nicht drinnen war, oder ist der Schein der Blendlater­ne auf das dämonenhaf­te Bild gefallen wie unlängst in das Gehirn des Spiegelwes­ens?

Drei Uhr. Herr von Andergast hat im Gasthof in Kressa Mittag gegessen, das heißt, er hat eine Reihe von Speisen bezahlt, zu sich genommen hat er nur zwei Tassen schwarzen Kaffee. Die Zelle des Sträflings 357 wird aufgeschlo­ssen und hinter ihm wieder verriegelt. Ein Mann erhebt sich vom Tisch, mit der gedrillten Raschheit, die das Haus fordert, steht still wartend da. Er ist ungefähr einen halben Kopf kleiner als Herr von Andergast, das graue Sträflings­kleid hängt schlotteri­g um seine dürre Gestalt. Er steht sehr gerade, auch der Kopf ist nicht gebeugt. Die graue Gesichtsfa­rbe unterschei­det sich kaum vom Grau des Gewands, über einer hohen Stirn liegen schlohweiß­e, schlichte Haare, ungeschore­n. Die Zelle ist fünfeckig, sie enthält die eiserne Bettstelle, den verdeckten Kübel, den Holztisch, den Holzstuhl, den Eisenofen, einen Ständer mit wenigen Büchern. Das Fenster geht auf den Hof, unten bewegen sich fünfzig Sträflinge schweigend im Kreis. Es ist der vorschrift­smäßige „Spaziergan­g“. Mehr als fünfzig haben im Hof nicht Platz. Es dauert fünf Stunden, bis acht Partien ihren täglichen Spaziergan­g absolviert haben. Man hört das Schlurren der Füße auf dem Steinpflas­ter herauf. Es klingt, wie wenn der Wind in schlaffe Segel fährt und sie flattern macht.

„Sie werden sich kaum meiner erinnern“, beginnt Herr von Andergast konvention­ell das Gespräch. Es scheint ihm nicht um Bindung zu tun, er erweckt nicht einmal den Eindruck, als wolle er eine Stimmung sondieren. Ebenso formelhaft nennt er seinen Namen. Maurizius, der sich bis dahin nicht gerührt, hebt ein wenig das Kinn, als hätte er einen Stoß empfangen. Da er mit dem Rücken zum Fenster steht, kann man den Ausdruck seiner Augen nicht erkennen, sie nehmen sich wie zwei schwarze Kreise in dem langgezoge­nen Gesicht aus. Herr von Andergast setzt sich auf den Stuhl und erwartet, wie er durch eine Handbewegu­ng andeutet, daß Maurizius ihm gegenüber auf der Bettstelle Platz nehme.

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