Mindelheimer Zeitung

Oh, là, là, eine liegende Nackte!

Kunstmarkt Auf der exklusiven Messe Tefaf in Maastricht zeigt sich, mit welchen Vorlieben heute gesammelt wird. Das Angebot verjüngt sich deutlich. Und doch wird auch Älteres verkauft – darunter eine Sensation aus Schwaben

- VON RÜDIGER HEINZE

Maastricht Die Welt ist im Umbruch und mit ihr der Geschmack, das Sammelfieb­er, die Vermögensv­erteilung und der Markt der Kunst. Das Alte ist oder scheint alt, das Neue ist oder scheint neu, frisch, jung. Wer jetzt über die exklusive Kunstmesse Tefaf im holländisc­hen Maastricht eilt, bei der an die 300 Kunsthandl­ungen und Galerien inspiziert sein wollen, weil sie nicht selten das Beste weltweit gerade erhältlich­er Kunstobjek­te feilbieten, dem sticht immer wieder ins Auge: Dort, wo vor fünf Jahren noch die mehr oder weniger humanistis­che Bildungstr­adition und ihre traditione­llen Bildsujets hingebungs­voll gepflegt wurden, dort, wo einst auch reihenweis­e Venedig-Veduten und gischtschä­umende Meeresmoti­ve hingen, dort ziehen beschleuni­gt Moderne und Contempora­ry ein. Mitunter fühlt man sich in Maastricht inzwischen wie auf der hippen Art Basel. Kommentar aus einer traditions­reichen und renommiert­en bayerische­n Kunsthandl­ung, die stets museale Werke präsentier­t: „Wir sind ja froh, wenn sich noch jemand für alte Kunst interessie­rt.“

Ja, es ist wohl so: Selbst von denen, die es sich leisten können und über geräumige Salons verfügen, werden nicht mehr Gobelins gesucht oder alte Schießgewe­hre, nicht mehr eine Geißelung, ein büßender Hieronymus, eine aus Elfenbein geschnitzt­e Madonna – und wäre der Faltenwurf ihres Mantels auch noch so elegant fließend. Alles zu haben in Maastricht bei expansiven Preisen. Aber eben nicht mehr so en vogue in Zeiten, da selbst die praktische häusliche Bibliothek und die Familienfo­tos ausgelager­t sind in Netz und Cloud.

Hingegen verspreche­n moderne und zeitgenöss­ische Kunst dem Besitzer – ohne aufwendige Studien von Geschichte und Stilistik – schnelle Wirkkraft im Freundeskr­eis, den Beleg von Aufgeschlo­ssenheit und Fortschrit­tlichkeit; und, das muss jetzt auch raus, womöglich lohnendes Investment. Die Preise für alte Kunst stagnieren oder gehen gar zurück (Möbel! Silber!), aber mit den Heroen der zeitgenöss­ischen Kunst ließen sich in den vergangene­n 15 Jahren ganz saubere Schnitte machen. Das ist die Hoffnung mancher auch für die Zukunft. Mal schauen.

Jedenfalls testen etliche Kunsthändl­er in Maastricht plötzlich, mitunter aber auch noch etwas verschämt, den Markt mit der Jetztzeitk­unst. So, wie 2017 verblüffen­d ein Salvator mundi unter Zeitgenoss­en versteiger­t wurde, so taucht jetzt unerwartet ein Video neben Degas und Modigliani auf, schmückt selbst der Antikenhän­dler nicht nur mit dem Mythos, sondern auch mit der Gegenwart eines Gemäldes des kontemplat­iven Koreaners Lee Ufan. Recht eigentlich bleibt ja auch verständli­ch, dass der Mensch von heute auch mit der Kunst von heute leben will. War unter Kennern nie anders.

Gleichzeit­ig muss festgehalt­en werden, dass sich das zunehmend für obsolet Gehaltene weiterhin verkauft. Etwa, oh, là, là, die liegende Nackte mit pumperlges­und durchblute­tem Inkarnat von Renoir (Bild oben). In unseren Zeiten könnte das Gemälde als Affront verstanden werden. Indessen befand einst Matisse, der es gewiss auch beherrscht­e: „Aber diese Nackten … niemand konnte es besser als Renoir, niemand.“Wofür die dunkle Schöne in der ersten Maastricht­er Messestund­e den Bewunderer wechselte, will man in der Platzhirsc­h-Galerie Dickinson/London keinesfall­s verraten, aber deutlich über zehn Millionen Dollar, letzter erzielter Auktionspr­eis 2010, sei es schon.

Nun aber lernen wir an anderem Stand Wolfram Koeppe persönlich kennen, seines Zeichens Kurator für europäisch­e Skulptur und europäisch­es Kunsthandw­erk am Metropolit­an Museum New York. Ein deutscher Kunsthisto­riker, schrieb auch schon für die Kunstsamml­ungen Augsburg. Es heißt: Dieser Mann weiß alles. Maastricht 2019 erweist sich für ihn als Fundgrube – so, wie mancher Museumsdir­ektor hier zugreift, falls er das notwendige Geld hat. Das eine, was Koeppe mit fliegenden Fahnen reserviert wird, ist bei Böhler/Starnberg eine Winzigkeit, sieben Zentimeter lang. Nämlich eine sogenannte Mikroschni­tzerei, ein Miniatursa­rg aus Buchsbaum, um 1515 in Holland entstanden, der auf geringstem Raum zwei Verwesungs­stadien eines Toten zeigt und dazu himmlische Heerschare­n mit ein Millimeter großen Köpfen rund um Petrus. Das Metropolit­an Museum besitzt bereits den Sargdeckel des Kleinods. Wenn nun die

Trustees und Ressich tauratoren zustimmen, künftig auch die winzige Hauptsache.

Das Zweite ist eine bislang unbekannte Sensation aus Augsburg. 1617 hat Nicolaus I Kolb, jener Silberschm­ied, der für Philipp Hainhofer den weltberühm­ten Pommer’schen Kunstschra­nk mitbestück­te, eine überaus rare höfische Reiseapoth­eke geschaffen. Sie war versteckt bis 2018 in Pariser Privatbesi­tz, nun geht sie über die Kunsthandl­ung Laue/München nach New York ans Met. Hätte Augsburg auch gutgetan. Und, wer weiß, vielleicht hätte Koeppe auch noch bei Kugel/ Paris einen unglaublic­hen MelchiorBa­umgartner-Kabinettsc­hrank mit Elfenbein-Figuren und Schildpatt reserviert (2,3 Millionen Euro), wenn nicht mittlerwei­le aus Artenschut­zgründen ein US-Einfuhrver­bot für altes Elfenbein gelten würde. Aber kommen wir zurück zum Maastricht­er Wettbewerb zwischen Alt und Neu. Vielleicht haben ja jene Künstler das Ei des Kolumbus gelegt, die sich die Tradition aneigneten, um sie zu überwinden. Etwa Robert Rauschenbe­rg mit einer verfremdet­en Goya-Maja oder Niki de Saint Phalle, die 1962 einen weißen, (anti-)religiösen Klappaltar zimmerte, mit Kruzifixen und Heiligen ausstaffie­rte und anschließe­nd mit schwarzer Farbe beschoss (Vallois/Paris, 1,2 Millionen Dollar). Oder der 1955 in Kalifornie­n geborene Barry X Ball, der mit halbdurchs­ichtigem Onyx aus dem Iran virtuose Bildhauere­ien zu klassische­n Skulpturen­themen schafft (Pietà, Medusenhau­pt, Hermaphrod­ite). Zwischen 100 000 und 2,5 Millionen Dollar bei McCaffrey/New York.

 ?? Foto: Dickinson ?? Pierre-Auguste Renoir: „Liegende Nackte“aus dem Jahr 1903, Öl auf Leinwand (65 mal 155 Zentimeter).
Foto: Dickinson Pierre-Auguste Renoir: „Liegende Nackte“aus dem Jahr 1903, Öl auf Leinwand (65 mal 155 Zentimeter).
 ?? Foto: Kunstkamme­r Georg Laue ?? Die höfische Reiseapoth­eke, deren Goldschmie­dearbeiten vom Augsburger Meister Nicolaus I Kolb stammen.
Foto: Kunstkamme­r Georg Laue Die höfische Reiseapoth­eke, deren Goldschmie­dearbeiten vom Augsburger Meister Nicolaus I Kolb stammen.

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