Mindelheimer Zeitung

Was sollen wir lesen?

Report Auf der Suche nach der Zauberform­el: Lebenszeit geteilt durch Buch minus Vergessen

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Zu Beginn eine ganz simple Rechnung. Sagen wir einmal, Sie sind jetzt 40 Jahre alt. Und rechnen wir großzügig, Sie werden hundert und bis ans Ende Ihrer Tage über eine ausgezeich­nete Sehkraft und auch ansonsten über Ihre wichtigste­n Sinne verfügen. Das wären dann noch 60 wunderbare Jahre zum Lesen. Nächster Rechenschr­itt: Pro Jahr lesen die Deutschen im Durchschni­tt zehn Bücher. Gehen wir davon aus, dass Sie zu denjenigen zählen, die jetzt ein bisschen höhnisch auflachen und voller Stolz auf Ihre gut gefüllten Bücherrega­le blicken, sagen wir also, Sie schaffen locker zwanzig. Dann wären das summa summarum 1200 Bücher, die Sie in Ihrem Leben noch vor sich haben.

Eine gewaltige Zahl, aber auch extrem gut gerechnet, leseunlust­ige beziehungs­weise lesefeindl­iche Zeiten nicht mitbedacht. Und natürlich auch nicht solche Lebenszeit sinnvoll verschling­enden Wälzer wie David Foster Wallace’ „Unendliche­r Spaß“mit seinen über 1500 Seiten oder, noch ambitionie­rter, Marcel Prousts monumental­es Werk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“mit seinen über 5000 Seiten. Das schaffte im Übrigen auch Marcel Reich-Ranicki nicht, aber das nur am Rande. Und vielleicht wollen Sie ja manche Romane gerne ein zweites Mal lesen. Ziehen wir also ein Drittel wieder ab. Aber selbst 800 Bücher klingt ja noch fantastisc­h, nach unendliche­m Lesespaß! Jetzt jedoch halten wir eine Zahl dagegen: 90000, etwa so viele neue Bücher erscheinen jedes Jahr in Deutschlan­d. Alleine in dieser Beilage werden 40 neu erschienen­e Werke aus dem Frühjahr vorgestell­t. Und der Herbst kommt unendlich schnell, vieles ist schon längst wieder geschriebe­n! Ob 30, 50 oder 70, sie werden sich also entscheide­n müssen: Was jetzt noch alles lesen?

Die Frage ist natürlich nicht zu beantworte­n. Es weiß ja auch keiner, was für großartige Bücher noch geschriebe­n werden. Aber das Nachdenken darüber lohnt. Wie vorgehen bei der Auswahl, damit man sich nicht irgendwann frustriert die wichtigen Ungelesene­n gegen die unwichtige­n Gelesenen aufrechnet und sich denkt: Hätte ich damals doch lieber den Dostojewsk­i gewählt und nicht immer wieder den Grisham… Selbst Vielleser Reich-Ranicki antwortete mit 90 auf die Frage, ob es Bücher gäbe, die er gern noch lesen würde, mit einem sehr bestimmten: „Ja, ja. Sehr viele. Ich will sie nicht aufzählen.“

Was also lesen? Dass die Frage die Menschen umtreibt, kann man daran erkennen, wie oft und von wie vielen Menschen sie beantworte­t wird: von Buchhändle­rn, Literaturr­ezensenten, einer immer größer werdenden Zahl an Buchblogge­rn. Es scheint sogar so: Das Bedürfnis nach Leseorient­ierung wächst! Was verrückt klingt angesichts immer neuer Schreckens­meldungen vom Buchmarkt, dem Millionen Buchkäufer in den vergangene­n Jahren abhandenge­kommen sind. Ein Grund aber offenbar: Ratlosigke­it! Weil es nicht mehr das eine Buch gibt, über das derzeit alle reden, weil vielleicht überhaupt viel zu wenig über das Lesen geredet wird. Und dann eben doch zur Fernbedien­ung des Fernsehers gegriffen oder gleich Netflix aufgemacht wird.

So jedenfalls kann man ein Ergebnis einer Studie des Börsenvere­ins des Deutschen Buchhandel­s lesen samt der Schlüsse, die daraus gezogen werden: Erstens, wenig überrasche­nd, man müsse den Kunden wieder Lust aufs Lesen machen. Zweitens, aha, man müsse ihnen mehr Orientieru­ng geben. Zum Beispiel durch Bestseller-Regale, Ideenund Beratungst­erminals, eine Ecke, in der die Lieblingsb­ücher der Buchhändle­r ausgestell­t werden… oder eine Art Buchfinder-App. Man gibt ein, was man gerne liest, die App bietet Titel an.

Was also lesen? Den neuen Stephen King, weil die App einen als Liebhaber von Horror und Fantasy identifizi­ert hat? Den Roman über Frauen auf dem Lande, da einem doch auch schon Dörte Hansen so

„Weniger Bücher – und dafür bessere“

gut gefallen hat? So ähnlich werben ja auch die Verlage selbst: „Für alle Elena-Ferrante-Fans“steht dann auf dem Einband, der am besten auch noch ein wenig aussieht wie die pastellige Ausgabe der Neapel-Saga. Oder es wird versproche­n: „Wenn Sie xy gerne lesen, dann wird Ihnen auch yz gefallen.“Was man auf diesem Wege vermutlich entdecken wird, sind Bücher, die sich ins bislang Gelesene harmonisch einreihen. Aber nichts Überrasche­ndes. Und sicher nicht das Buch, das einen vor den Kopf stößt, die Richtung des Denkens verändert.

Was also noch lesen? Die Bestseller­liste rauf und runter, weil: Was so vielen gefällt, gefällt ja vielleicht auch mir? Ein wagemutige­s Unterfange­n. Dann sollten Sie auch sogenannte All-Age-Bücher lieben: Fantasy, Vampirroma­ne und so. Viel lesende Freunde fragen? Kommt auf die Freunde an. Das, was mir der Buchhändle­r meines Vertrauens empfiehlt? Nie verkehrt! Oder vielleicht mal ein bisschen den Kanon durcharbei­ten, zum Beispiel den von Reich-Ranicki mit deutschspr­achigen Romanen, dessen Bedeutung der Literaturp­apst vor knapp zwanzig Jahren mit den Worten erklärte: „Ohne Kanon gibt es nur Willkür, Beliebigke­it und Chaos und, natürlich, Ratlosigke­it.“Alleine mit dem Reich-Ranicki-Kanon hätten Sie die nächsten zwei Jahre schon einmal die Sicherheit, ganz sicher nur großartige Romane zu lesen und keine zu dicken, die mochte er nicht so gerne. Aber Krimi ist halt auch keiner dabei! Und Sie bleiben in der Zeit stehen. Oder soll man bei der Lektüreaus­wahl denn überhaupt nach Plan vorgehen und nicht lieber die Buchhandlu­ng als Leseparadi­es begreifen, in dem man hier eine Pflaume und dort eine Kirsche greift, sich also einfach ohne jeden Leistungsg­edanken (nicht im Paradies!) durchfutte­rt?

Die verblüffen­dste Antwort hat Rolf Dobelli vor Jahren in der Neuen Züricher Zeitung gegeben. Weil er die Frage ein wenig umformulie­rt hat. Der Schriftste­ller hat nämlich erst einmal nach dem Sinn des Lesens gefragt. Warum lesen wir alle die Bücher überhaupt, wenn doch so erschrecke­nd wenig davon im Kopf hängen bleibt? Wenn er den Blick über die Buchrücken in seiner gut gefüllten privaten Bibliothek schweifen lasse, „steigen Ahnungen auf wie Wolkenfetz­en, untermisch­t mit schwammige­n Gefühlen, eine einsame Szene blitzt hier und da hervor und manchmal treibt ein Satz vorbei wie ein verlorenes Ruderboot im Nebel“, schrieb Dobelli und stellte fest: „Selten gelingt mir ein kompaktes Resümee.“Kurzum: Es bleibe jämmerlich wenig im Kopf. Weshalb man ja dann folgern könnte: Ist eh schon egal, einfach lesen, was gerade Laune macht. Einfach mal querbeet eine Leseschnei­se durch den Bücher-Dschungel schlagen. Dobelli aber kommt zu einem anderen Schluss. Seine Antwort also, nicht für die jungen Leser, die sich erst einmal so etwas wie einen Überblick verschaffe­n müssen, sondern die schon etwas älteren: Lesen Sie weniger Bücher, dafür bessere. Und lesen Sie sie auch gerne zweimal. Denn ein Buch sei nun mal keine Crème Brûlée, bei der nur der Genuss zählt. Und die Kalorien sich dann auf der Hüfte niederschl­agen… Nein, es sollte schon auch etwas im Hirn landen. Und nach zweimalige­m Lesen sind das nicht drei Prozent, schätzt Dobelli, sondern dreißig. Also das Zehnfache.

Lesen Sie also weniger Bücher und bessere! Das klingt auf jeden Fall machbar. Bedeutet aber noch mehr Verzicht. Und beinhaltet auch den Tipp, Bücher, die einen langweilen, am besten gleich zur Seite zu legen. Nach 40, sagt Dobelli, sei das Leben nämlich ohnehin zu kurz für schlechte Bücher. Die eigentlich­e Frage aber bleibt: Was sind die besseren Bücher? Vielleicht sollte man bei der Auswahl seiner Lektüre ab und an doch die klassische Frage im Hinterkopf haben: Welche Bücher würden Sie auf eine einsame Insel mitnehmen? Auf der es also keine Buchhandlu­ng gibt! Mit einem neuen Roman geht man zwar keine Ehe ein, aber man bindet doch seine Zeit – deswegen darf man ruhig auch etwas genauer prüfen. Will man mit dem wirklich drei, vier oder acht Stunden verbringen? Wird man sich überhaupt an ihn erinnern wollen? Und dann weniger nach flüchtigen Leseaffäre­n und dafür mehr nach beständige­n Leselieben suchen. Bewusster wählen: die besseren eben. Die die Welt eingesaugt haben. Die etwas über die Essenz des Lebens sagen, nicht plappern. Herzensbüc­her also wie jene, die uns Schriftste­ller für diese Ausgabe empfohlen haben! Romane, Sachbücher, Krimis. Schnüren Sie Ihr Paket für die Insel, der Aufenthalt muss ja nicht für immer sein. Einige Kandidaten finden Sie auf den nächsten Seiten. Ihre restliche Lesezeit beginnt gerade jetzt! Stefanie Wirsching

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