Mindelheimer Zeitung

Gast im Leben der anderen

Matthias Nawrat Ein Schriftste­ller in Berlin, der zuhört und erzählt, was unser Dasein ausmacht

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Die Zeit vergeht, das Leben läuft, wie es läuft – vor allem läuft es ab. Und irgendwann verschwind­et jeder, nimmt seine Erinnerung­en und Träume mit. Und die Welt dreht sich weiter. Bleibt bevölkert von Existenzen, die die „Schwere der angesammel­ten Jahre“fühlen, die aus Zufällen zusammenfü­gen, was sie für ihre Biografie halten. Hinter jedem Fenster, in jeder U-Bahn gibt es einzigarti­ge Geschichte­n, die wir nie erfahren.

Melancholi­e ist die Grundmelod­ie dieses Buches – und der Erzähler Matthias Navrat ist „der traurige Gast“, der in Berlin geduldig wie ein Beichtvate­r Lebensgesc­hichten und Lebensbetr­achtungen anderer hört und sie lakonisch abgleicht mit dem Blick aufs eigene Dasein. Dazwischen dichter Berliner Alltag.

Wer sich auf den Stoff anderer Leben einlässt, wird hin- und hergerisse­n zwischen Trauer und Euphorie. Dieses Buch erzählt davon, von Überdruss und Kummer und von der Lust auf Welt und Leben. Der namenlose Erzähler, Schriftste­ller in der Schreibkri­se, schleudert einmal seinem Gegenüber entgegen: „Du hast nichts zu erwarten, sagte ich. Niemand hat etwas zu erwarten. Die Leute sterben zufällig, so zufällig, wie sie eben geboren wurden.“Doch auf der anderen Seite ist da diese Gier auf Leben. Die Freude „darüber, dass diese Stadt funktionie­rte. Und dass in ihr alle die Leute lebten, in all den Straßen und in all den Stadtviert­eln.“

Matthias Nawrat, 1979 im polnischen Opole geboren, emigrierte als Zehnjährig­er mit seiner Familie nach Bamberg. Er studierte Biologie und dann am Literaturi­nstitut in Biel. Nawrat hat bislang drei Romane veröffentl­icht. Eckdaten seiner Biografie identifizi­eren ihn als jenen namenlosen Schriftste­ller, der mit seiner Frau Veronika in Berlin lebt.

So wie Nawrat selbst kommen auch die wichtigste­n Protagonis­ten des Romans aus Polen. Sie sind irgendwann wie der Autor im offenen Raum Berlin gelandet. Da ist die Architekti­n Dorota, die dem „Gast“in mehreren „Sitzungen“in ihrer Wohnung ihr Leben erzählt. Diese Erinnerung­en, die bis in die Kriegsjahr­e in Polen und die Verbrechen an den Juden zurückreic­hen, überlagern den eigentlich­en Grund, warum der Erzähler die Architekti­n ursprüngli­ch aufgesucht hat: Sie soll Pläne für die Umgestaltu­ng seiner

„Du hast nichts zu erwarten, sagte ich“

Wohnung machen. Doch der Sog der Lebensbeic­hte lässt alles andere in den Hintergrun­d treten – und der Besucher kann gar nicht anders, als immer wieder bei Dorota zu erscheinen. Bis eines Tages die Wohnung leer steht …

Auch Dariusz, ein alkoholkra­nker ehemaliger Arzt aus Lublin, den der Schriftste­ller als Kollegen kennenlern­t, als er einen Aushilfsjo­b an einer Tankstelle angenommen hat, zieht den Erzähler durch seine in Polen wurzelnde Lebensgesc­hichte in Bann. Es ist eine Geschichte von Irrtum, kaputter Ehe und dem Tod des einzigen Sohnes, der als Aussteiger in Bolivien ertrunken ist. Wie Nawrat Dariusz’ lange Reise zum Todesort seines Sohnes schildert, wie er Kalifornie­n, Mexiko, Bolivien beschreibt – das gehört zu den stärksten Kapiteln dieses ansonsten in Berlin verorteten Romans.

Ruhig und distanzier­t erforscht Matthias Nawrat dort in kurzen und längeren Kapiteln, was unsere Existenz ausmacht, wie jedes Individuum Aspekte des allgemeine­n Menschsein­s verkörpert. Nawrat probiert Geschichte­n an wie Kleider. „Ich konnte an nichts anderes denken als an andere Menschen, an andere Leben, die ich leben wollte.“Wir treiben mit dem Autor durch das Berlin von heute, das in diesem Roman mehr ist als nur Kulisse. Es ist der Nährboden, auf dem die Geschichte­n gedeihen. Nawrat erzählt vom Unbehagen auf den Straßen nach dem Anschlag auf den Weihnachts­markt am Breitschei­dplatz, er führt uns in Kirchen, Kneipen, Friedhöfe und ein Forschungs­labor, wo ein ehemaliger Studienkol­lege, den der Erzähler zufällig wiedertrif­ft, arbeitet. Wir lesen eine Mischung aus Tagebuch und Fiktion.

Jeder Andere ist eine Erzählung, die etwas mit unserem eigenen Leben zu tun hat. Lebensläuf­e, Sinnkrisen, Prägungen durch andere: Darum kreisen die Geschichte­n, die der „traurige Gast“hört – Literatur, getränkt mit dem Wissen um Vergänglic­hkeit. Überall. „In der Wohnung roch es nach etwas, das ich kannte. Ich meinte, es sei der Geruch alter Bücher, deren Papier in Zeiten hergestell­t und umgeblätte­rt worden war, die schon lange vergangen waren.“Einmal lässt der Erzähler Dariusz sagen: „Mich packte das Grauen, wie viele Menschen es waren, die ich niemals kennenlern­en würde und auch nicht kennenlern­en wollte.“Das Leben ist niemals auserzählt. Michael Schreiner

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Matthias Nawrat: Der traurige Gast Rowohlt, 304 Seiten, 22 Euro

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