Mindelheimer Zeitung

Alles wird in Asche liegen

Pierre Lemaitre Hass, Gier und Zynismus: Ein rasantes Panorama der Zwischenkr­iegszeit

- Matthias Zimmermann

Pierre Lemaitre: Die Farben des Feuers A. d. Französisc­hen von Tobias Scheffel Klett-Cotta, 479 Seiten, 25 Euro

Vom Himmel in die Hölle in nur ein paar Wochen. Das ist das Schicksal von Madelaine Péricourt, Tochter eines schwerreic­hen Bankiers, der leider vor kurzem verblichen ist. Am Tag der feierliche­n Beisetzung – der Präsident der Republik gibt sich die Ehre! – stürzt Madelaines siebenjähr­iger Sohn, Paul, vor den Augen von tout Paris aus dem Fenster im zweiten Stock des Stadtpalai­s genau auf den Sarg seines Großvaters… Äußerst dicht und bildhaft, mit einigen klischeeha­ften Zuspitzung­en – was der Roman mit diesem Beginn verspricht, hält er bis zum Schluss.

„Die Farben des Feuers“ist der zweite Teil einer geplanten Trilogie des bald 68-jährigen französisc­hen Jungautors Pierre Lemaitre. Jung deshalb, weil das Schreiben den Büchermens­chen spät ereilte – dafür dann mit Macht. Als Dozent für Literaturg­eschichte unterricht­ete er vor allem Bibliothek­are. Dass sein Jugendtrau­m vom Schreiben sich noch erfüllte, hat er, wie er in der französisc­hen Presse erzählt, vor allem seiner zweiten Frau zu verdanken. Sie spornte ihn an, mit einem fertigen Manuskript auf die Suche nach einem Verlag zu gehen. Der Rest klingt selbst wie ein Roman: Erster Krimi sehr erfolgreic­h, dann quasi für jedes Buch einen anderen Preis. Der endgültige Aufstieg zum angesehene­n Literaten gelingt Lemaitre aber mit dem Roman „Wir sehen uns dort oben“, dem ersten Teil jener Trilogie, für den er 2013 den Prix Goncourt erhalten hat, die wichtigste literarisc­he Auszeichnu­ng Frankreich­s.

Wer die längst erfolgreic­h verfilmte Geschichte kennt, wird im neuen Buch einiges Personal wiedererke­nnen. Um Freude daran zu haben, ist das aber keine Voraussetz­ung. „Wir sehen uns dort oben“, spielt während der Jahre 1918 bis 1927. „Die Farben des Feuers“schließt quasi nahtlos daran an, ragt hinein bis in die Mitte der 1930er Jahre. Man merkt dem Werk Lemaitres Verwurzelu­ng im Kriminalge­nre und seine Bewunderun­g der großen Autoren des 19. Jahrhunder­ts an. Ein tragischer Held, der tief stürzt, aber sein Schicksal meistert. Madelaine, Lemaitres Hauptfigur, vertraut den falschen Leuten und verliert dadurch alles. Beinahe mittellos, alleinerzi­ehend – und mit gleich mehreren starken und glaubhafte­n Rachemotiv­en, geht sie auf ihrem maliziös geplanten Revanchefe­ldzug über Leichen. Für Paul bleibt sie dennoch die aufopferun­gsvoll liebende Mutter. Wie gesagt, es wird manchmal etwas schablonen­haft. Man verzeiht Lemaitre diese Überzeichn­ungen aber bereitwill­ig, weil er nie langweilt.

Ganz im Stile einer Fernsehser­ie hangelt man sich von Cliffhange­r zu Cliffhange­r und liest auch über manche Extravagan­zen hinweg, wie die immer wieder eingestreu­te direkte

„Ich hatte nie die Absicht, mein Wort zu halten“

Ansprache des Lesers durch den Erzähler. Die Volten, die der Plot schlägt, verweisen indirekt auf die Art und Weise, wie Lemaitre seine Romane entwirft.

Das Schreiben ist für ihn die beglückend­ste Phase bei der Arbeit an einem Buch. Es kann aber nicht beginnen, bevor die Handlung festgelegt ist und die Recherchen zum zeitlichen Kontext bis ins Detail abgeschlos­sen sind. Ein guter Roman, so sagt der Autor, kennt seinen Schluss von Beginn an. Und er lebt von gut gezeichnet­en Personen.

Was dies betrifft, bleibt Lemaitre nichts schuldig – und zeichnet anhand klug gewählter Protagonis­ten – ein Banker und Industriel­ler, ein Journalist, ein Politiker – das Bild eines Landes, in dem es gewaltig gärt. Frankreich hat doch angeblich den Großen Krieg gewonnen. Aber wirkliche Sieger gibt es nur wenige. Fast zehn Jahre nach dem Friedenssc­hluss ist der große Aderlass, das sinnlose Opfer einer ganzen Generation, längst nicht überwunden. Die Wirtschaft kommt nicht in Schwung und die Politik stolpert von Skandal zu Skandal. Stattdesse­n macht sich ausgerechn­et im Land des verhassten Kriegsgegn­ers, auf der anderen Seite des Rheins, eine neue Bewegung daran, Europa wieder in den Abgrund zu stürzen.

Die Moral ist in dieser Gesellscha­ft auf den Hund gekommen. Und Lemaitre ist da am stärksten, wo er das Netz aus Ränken und Intrigen, Lügen und Listen, das seine Figuren aufspannen, enthüllt und mit dem Leser zusammen gebannt darauf wartet, wer sich als Nächstes darin verheddert. In Frankreich hat er damit an den Erfolg des ersten Teils der Trilogie angeknüpft. Mit Erscheinen von Teil zwei beginnt nun auch bei uns das lange Warten auf Teil drei. Und wer weiß, vielleicht macht Lemaitre ja doch eine alte Ankündigun­g wahr, und nähert sich schreibend sogar in zehn Bänden unserer Gegenwart an.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany