Genie mit Abgrund Die Beichte eines Forschers
Hanya Yanagihara
Die New Yorker Schriftstellerin mit hawaiianischen Wurzeln wurde mit ihrem monumentalen, den Leser an die Schmerzgrenze führenden Werk „Ein wenig Leben“berühmt. Darin erzählt sie die Geschichte eines sich zigfach wiederholenden Missbrauchs aus Sicht des Opfers. In „Das Volk der Bäume“, ihr Erstling, der im Nachgang ihres großen Erfolges jetzt auf Deutsch erscheint, nimmt sie die andere Perspektive ein, die des Täters. Und geht dabei einer Frage nach, die gerade jetzt, siehe der Fall Michael Jackson, wieder mit Heftigkeit diskutiert wird. Wie soll man mit dem Werk eines Mannes umgehen, der sich an Wehrlosen vergangen hat?
Im Roman heißt das Genie, in dessen Abgrund man blickt, Norton Perina. Ein junger, eigenbrötlerischer Laborarzt, der sich der Expedition eines Anthropologen auf die kleine Inselgruppe im westlichen Pazifik anschließen darf und dort im Dschungel auf Menschen trifft, die offenbar weit über hundert, sogar zweihundert Jahre alt sind. Ihr langes Leben aber bezahlen sie mit dem Verlust der Menschlichkeit: Die Erinnerung, die Sprache, fast alles ist ihnen verloren gegangen. „Halb Mensch, halb Tier“vegetieren sie im Urwald, ausgestoßen von ihrem Stamm. Perina entdeckt die Ursache für ihre Langlebigkeit: der Verzehr einer nur dort auf der Insel lebenden Schildkrötenart. Zurück in Amerika, im Gepäck das gepökelte Fleisch der Wundertiere, forscht er damit an Mäusen, veröffentlicht seine Ergebnisse und bringt damit den Untergang für das Inselvolk. Erst kommen noch mehr Anthropologen, dann die Pharmaindustrie! Der Alkohol! Für ihn der Nobelpreis…
Was Perina auf der Insel aber auch entdeckt hat: seine fatale Lust. Im Laufe der Jahre wird er immer wieder ins zerstörte Paradies zurückkehren, 43 Kinder adoptieren und sich an seinen jungen Schützlingen sexuell vergehen.
Es ist eine Vergewaltigung von Mensch und Natur, die Yanagihara in ihrem bilderstarken, soghaft erzählten Roman beschreibt. Das Besondere aber ist ihr Zugriff auf das Thema: Sie erteilt Perina selbst das Wort. Sein Lebensbericht, verfasst im Gefängnis, und nun editiert, und stark redigiert von einem treu ergebenen Mitarbeiter, der das Werk mit unzählige Fußnoten versieht – und dem Roman damit eine verblüffende wissenschaftliche Authentizität verleiht. Und sie lässt Norton Perina dabei in seiner Widersprüchlichkeit bestehen: auf der einen Seite der geniale Wissenschaftler, auf der anderen Seite der skrupellose Vergewaltiger. Ihre Meinung zur Debatte? Sie könne eine andere Haltung gut verstehen, Hanya Yanagihara aber findet: „Beides sollte für sich allein stehen: das Werk und die Person.“Stefanie Wirsching