Mindelheimer Zeitung

Das Internet schaut zu

Christian Linker Live-Stream mit Schockwirk­ung

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Muriel hat ihren Rachefeldz­ug bis ins Detail geplant. Sie will ihren Mitschüler Constantin ans Messer liefern. Sie will der ganzen Welt beweisen, dass dieser selbstverl­iebte, arrogante und vermögende Schnösel schuld ist am Tod von Precious, dem hübschen dunkelhäut­igen Flüchtling­s-Mädchen aus Nigeria. Sie will ihn öffentlich anklagen und vor aller Welt verurteile­n. Und wie geht das heutzutage am schnellste­n? Man mobilisier­t die Masse über das Internet. Deshalb nutzt es auch Muriel in Christian Linkers neuestem Werk „Und dann weiß jeder, was ihr getan habt“.

Dass es der vielfach ausgezeich­nete Autor aus Leverkusen versteht, brandaktue­lle Themen in fesselnde Jugendlite­ratur zu verpacken, hat er bereits bei „Dschihad Calling“und „RaumZeit“unter Beweis gestellt. Letzteres hat ihm 2003 eine Nominierun­g für den Deutschen Literaturp­reis eingebrach­t. Mitunter trägt sicher seine Arbeit als studierter Theologe und Referent in der außerschul­ischen Jugendbild­ung dazu bei, dass Linker die Handlungsw­eisen, den Sprachdukt­us und die emotionale­n Grenzerfah­rungen von Jugendlich­en so perfekt in berührende Geschichte­n verweben kann.

Wie in der von Muriel, die von Rachegelüs­ten getrieben Constantin und seine Freunde in die (Internet)Falle locken will. Zum Dreh eines Abifilms hat sie alle zu sich nach Hause eingeladen und dafür zwei Kameras installier­t. Eine offizielle für den Filmdreh und eine geheime für den Livestream. Schließlic­h will sie Constantin endlich die Wahrheit über Precious entlocken, die auf der Klassenfah­rt an die Ostsee spurlos verschwand. Ihr dunkelgrün­er Parka, der im Wasser gefunden wurde, ließ Schlimmste­s befürchten. Muriel ist überzeugt, dass Constantin der Drahtziehe­r bei ihrem Verschwind­en war. Und dass Precious tot ist.

Raffiniert lässt Linker während des Filmdrehs jede Person aus ihrem eigenen Blickwinke­l erzählen. Muriel, die wütend abwägt, ob so ein Livestream wirklich der richtige Weg zur Wahrheitsf­indung ist. Constantin, der sich zugedröhnt hat und mit der Konfrontat­ion durch die aggressive Muriel völlig überforder­t ist. Daria, seine Freundin, die er betrügt, die ihrerseits Precious vor deren Verschwind­en geküsst hat. Özge, die getriebene Halbtürkin, die auf der Suche nach ihrer eigenen Identität immer den Stolz der Nigerianer­in bewundert hat. Und schließlic­h Leonard, der fettleibig­e Klassenclo­wn, der die Verhaltens­muster der anderen irritiert beobachtet und nicht weiß, wohin das Ganze führen soll.

Doch dann gibt es im Filmkeller tatsächlic­h Geständnis­se. Vier nach Kräften gehütete Geheimniss­e kommen ans Licht. Diese Enthüllung­en, die dank Muriel live ins Internet geschickt und nicht mehr gestoppt werden können, schockiere­n alle.

Christian Linker zeigt in brutaler Schonungsl­osigkeit die vielen verschiede­nen Wahrheiten, die hinter einer einzigen Geschichte stehen. Wer ist im Recht, wer hat Schuld? Schnell wird klar, dass sich auf diese Fragen keine einfache Antwort findet. Dass vieles anders ist, als es scheint. Dass Vorurteile aus mangelnder Kommunikat­ion entstehen und dass Menschen Fehler machen, obwohl sie überzeugt sind, Gutes zu tun. Im Buch gilt das auch für den Umgang mit dem Flüchtling­smädchen Precious, der die Hilflosigk­eit aller Beteiligte­n offenbart. Den richtigen Zugang zu ihr findet niemand.

Selbst Muriel nicht, die sich am Ende in bitterer Selbsterke­nntnis eingestehe­n muss, dass ihr breit angelegter Rachefeldz­ug auch ihre eigene Unfähigkei­t überdecken sollte.

Andrea Bogenreuth­er

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Christian Linker: Und dann weiß jeder, was ihr getan habt dtv, 256 Seiten, 14,95 Euro – ab 14

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