Verlorenes Russland?
Leipzig ehrt die Analyse des Autoritären Masha Gessen
Man muss das auch politisch verstehen, dass dieses Buch solchen Erfolg hat. In den USA, wo dessen Autorin, die russische Journalistin Masha Gessen, lebt, bereits mit dem National Book Award ausgezeichnet, wird es nun zum Auftakt der Leipziger Buchmesse auch noch mit dem Buchpreis zur Europäischen Verständigung geehrt.
Was die schriftstellerische Qualität angeht und den auch über die mehr als 600 Seiten hinweg spannenden Zugriff auf ein so komplexes Thema wie den Zustand des Riesenreichs Russland, ist das sicherlich gerechtfertigt. Denn ihr gelingt es, Geschichte und Gegenwart sowohl von oben als auch von unten verständlich zu machen. Aber: Passt das zum Preis der Verständigung?
Masha Gessens „Die Zukunft ist Geschichte“ist vor allem eine Abrechnung, eine Anklage. Und die gibt dem Westen zwar auch eine Mitschuld am Rückfall Russlands ins Autoritäre 30 Jahre nach Glasnost und Perestroika. Die demütigende Verdrängung an den Katzentisch bei internationalen Verhandlungen, die Tendenzen zu einer Osterweiterung der Nato und die Herabstufung zu einer „Regionalmacht“(Obama) – das alles beförderte freilich die Vorbehalte und die Verunsicherung sehr vieler Menschen und spielte damit den Agitatoren einer nationalistischen Rückwendung in die Hände.
Und das wirkt sogar noch so weit, dass Menschen, die dereinst aus der untergehenden Sowjetunion in die USA flüchteten, heute in großer Mehrheit Putin in der alten Heimat wählen würden und in der neuen Trump gewählt haben (in Deutschland erreichte die AfD bei Russlanddeutschen auch sehr hohe Werte). Die staatliche Rückbesinnung auf die alte Größe und deren Verklärung bietet auch eine Lösung für die individuellen Identitätsschwankungen und Anerkennungsdefizite in der von allen Traditionen entkoppelten Moderne. Zum Preis der Unterdrückung und Entwürdigung anderer Identitätskonzepte freilich.
Klingt abstrakt? Gessen entwickelt solche Befunde aber eben nicht nur durch Soziologie, Philosophie, Psychoanalyse – sondern zeigt die Mechanismen im Konkreten. Einerseits in der Haltung der Mächtigen. „Putin-Flüsterer“Alexander Dugin wird zitiert, wie er Russland als letztes Bollwerk gegen „das globale amerikanische Imperium“in Stellung bringt: „Russland wird entweder groß sein! Oder es wird gar nicht sein! Russland ist alles! Alles Übrige ist nichts!“TV-Moderator Dmitrij Kiseljov hetzt: „Schwule zu bestrafen, wenn sie unter Minderjährigen Propaganda für Homosexualität betreiben, reicht nicht!“Ihnen müsse verboten werden, Blut, Sperma oder Organe zu spenden.
Andererseits zeigt Gessen die persönlichen Folgen davon. Sie erzählt aus der Perspektive von vier Menschen, Mitte der 80er geborenen und also zunächst in zunehmender Freiheit aufgewachsenen. Darunter Serjoscha, Enkel des Perestroika-Vordenkers Jakowlew, und Shanna, Tochter des Putin-Kritikers Boris Nemzow, aber auch der einfache Lehrersohn Ljoscha, der allein durch seine Homosexualität zum Außenseiter, zum Feind wird. So gelingt der 52-jährigen Masha Gessen, die auch schon Bücher über Wladimir Putin und über die PussyRiot-Bewegung geschrieben hat, ein eindrucksvolles Bild von oben und unten über die Wiederkehr des Totalitarismus in Russland und die Folgen. Bloß was den Preis angeht: Verständigung schafft das schafft keine, sondern der Blick verfestigt Feindschaft. Zumal diese Wiederkehr ja von der Mehrheit der russischen Bevölkerung offenbar begrüßt wird. Wolfgang Schütz