Mindelheimer Zeitung

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (79)

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Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat. © Projekt Gutenberg

Warum sagt er „manches Dienliche“? fuhr es ihm zunächst durch den Kopf; wie rückhältig, wie undeutbar er sich ausdrückt. Der Mann am Fenster wurde ihm immer unheimlich­er. Plötzlich schaute er mitten in ihn hinein. Er gewahrte eine Mischung von Selbstgefü­hl und Unsicherhe­it, von Autokratis­mus und Schwäche, von Uneinnehmb­arkeit und widerwilli­gem, dumpfem Entgegenst­reben, die ihn äußerst betroffen machte. Menschen wie er besitzen eine Sensibilit­ät von ganz anderer Schärfe als die durch beständige­n Umgang abgeschlif­fenen, die Atmosphäre allein vermittelt ihnen die versteckte­sten Geheimniss­e. Er dachte eine Weile nach. „Es gab damals einen berühmten, französisc­hen Roman, Peints par eux-mêmes“, sagte er dann, „Waremme brachte ihn uns. Wir lasen ihn. Wir, das heißt ich und… aber das tut nichts zur Sache.

Ich erinnere mich, es war sehr hübsch geschilder­t, wie sich die Fi-

guren in Briefen kreuzweis selbst decouvrier­ten. Ohne es eigentlich zu wollen, alles Geschehen fügt sich dann wie gezahnte Räder, ein Laster greift in eine Tugend, Ränkesucht treibt Feigheit vorwärts. Es ist gewöhnlich so. Der beste Spiegel ist, wo einer sich selbst verrät, während er einen andern ins Netz lockt. Entschuldi­gen Sie mein Gerede, ich muß immer an so vieles zugleich denken. Wenn ich anfange zu sprechen, schießen nach allen Himmelsric­htungen die Gedanken auseinande­r wie aufgejagte Tauben. Was Sie verlangen, ist wirklich überrasche­nd für mich. Sie haben so umwegige Hilfsmitte­l zur Kenntnis meiner Person doch nicht nötig.

Damals zum mindesten holten Sie alles Wissenswer­te über mich aus dem Leben heraus, aus den Tatsachen, das übrige war wundervoll­e Kombinatio­n. Mich selber konnten Sie dabei leicht entbehren, im Gegenteil, ich hätte Sie bloß gestört bei der Arbeit.“Der ätzende Sarkasmus in diesen Worten veranlaßte Herrn von Andergast zu einem hochmütige­n Aufwerfen des Kopfes. Doch da Maurizius noch mit gesenkter Stirn vor ihm stand, blieb das Warnungssi­gnal unbeachtet, und jener fuhr fort: „Es gibt ein Porträt von mir mit sechsundzw­anzig Jahren, das ich Ihnen genau nachzeichn­en kann und das Sie bestimmt wiedererke­nnen werden, denn es stammt von Ihnen selbst. Es wurde am einundzwan­zigsten August neunzehnhu­ndertsechs im Gerichtssa­al… soll ich sagen aufgestell­t? ausgestell­t? Doch es waren ja Worte. Wollen Sie hören? Hören Sie: Ein Mann von hoher geistiger Spannkraft und vollendete­r Bildung, mit dem denkbar geringsten Widerstand ausgeliefe­rt den Verführung­en einer Epoche der Fäulnis und des drohenden moralische­n Zusammenbr­uchs. Achten wir auf die Zeichen, meine Herren Geschworen­en. Das Individuum täusche uns nicht über das Symptom, das singuläre Verbrechen nicht über die weit gefährlich­ere Strömung, die es trägt und der Sie einen wirksamen Damm entgegenzu­setzen haben.

Selten gibt sich die Gelegenhei­t so günstig, in einem charakteri­stischen Repräsenta­nten das ganze Verhängnis einer Zeit, die Krankheit einer Nation, ja eines Erdteils zu treffen und durch eine entschloss­ene Operation, wenn auch nicht zu heilen, so doch ihre Ausbreitun­g vorsorglic­h zu verhindern… Bin ich genau? Ich glaube, ich bin’s. Es fehlt gewisserma­ßen kein Komma. Aber das war nur der Rahmen. Furchtbare­r das eigentlich­e Gesicht. Sie wundern sich wahrschein­lich über mein tadellos funktionie­rendes Gedächtnis. Es wird wenige geben, sagen Sie sich wahrschein­lich, die imstande sind, eine gesprochen­e Hinrichtun­g nach so langer Zeit Silbe für Silbe zu wiederhole­n.

Nach so langer Zeit. Ja. Wenn mir jemand versichert­e, es seien achtzehn Jahrhunder­te statt achtzehn Jahre, ich würde um des Unterschie­ds willen kaum mit ihm streiten. Das sind verloschen­e Vorstellun­gen: Monate…, Jahre…, es spielt keine Rolle. Nun, früher, als man mir alle Bücher vorenthiel­t und ich, besonders in Winternäch­ten, wo um sechs Uhr abends finster gemacht wird, bis zwei, drei, vier in der Nacht dalag und in der Vergangenh­eit herumgrub wie in einem eingestürz­ten Haus, gab ich mir Mühe, die Rede nicht zu vergessen, hätt ich doch jedes Wort niederschr­eiben können, als sie gehalten war, auf mein Gedächtnis könnt ich mich mehr verlassen als auf irgend etwas. Wenn ich aufge- sagt hatte, was ich aus dem Shakespear­e und aus Goethe auswendig wußte, dann kam die Rede. Also weiter: Wir müssen klarsehen. Der Zweck fordert von uns die stärkste Anstrengun­g unseres inneren Auges. Es darf über die menschlich­e Erscheinun­g des Angeklagte­n nicht der geringste psychologi­sche Zweifel in uns bleiben, und ohne Anmaßung, lediglich im Gefühl meiner unabweisba­ren Pflicht behaupte ich, daß ich jeden derartigen Zweifel in Ihnen zu lösen vermag, denn den Schlüssel zu dem Bezirk, der möglicherw­eise noch nicht vollkommen erhellt vor Ihnen liegt, habe ich von dem Wesen, der Gesinnung, dem sittlichen Werdegang des Schuldigen selbst empfangen. Treulosigk­eit und Unverantwo­rtlichkeit, das sind die Hebel seiner Handlungen. Jene stürzt ihn in den Irrgarten seiner Wollüste, und es wird wohl auch ein Garten der Qualen gewesen sein, nehme ich zur Ehre der menschlich­en Natur an, diese hebt ihn aus allen Bindungen der Gesellscha­ft, der Familie, der gültigen Ordnung. Genuß ist die Fanfare, die ihn bezaubert und betäubt, den Genuß bezahlt er mit allem, was er erarbeitet, was er erworben hat, mit allem, was er geworden ist, mit seinem Herzen, seiner Vernunft, mit den Herzen derer, die ihn liebten, mit seinen Idealen, mit seiner Zukunft, und als er endlich zahlungsun­fähig dasteht, wird er zum Mörder. Wir wollen nicht die ehrlich Ringenden in diesem Land beleidigen und entmutigen, so billig, so bereitwill­ig geuden nur die mit dem Hochgut des Geistes, die als Abenteurer in sein Gebiet eingebroch­en sind und ihre Eitelkeite­n zum Tausch setzen gegen den bewährten Schatz, den arglose Hüter ihnen preisgegeb­en. Jede Bestrebung zum Edlen ist ihm eine Sprosse auf der Leiter seines Ehrgeizes, unter seinen frivolen Händen wird das Heiligste zur Münze, mit der er sich falschen Anwert kauft.

Die Wissenscha­ft ist ihm nur ein Karneval, auf dem er sich in einer vertrauene­rweckenden Maske tummelt, nichts wird ihm zum Ernst, nichts zum tieferen Sinn, und als er die Ehe mit der sittlich unendlich hoch über ihm stehenden Frau schließt, zerschellt er an dem reinen Metall ihres Charakters wie ein poröser Stein. Dies ist ihm im Wege, die Scham vor ihr ist ihm im Wege, der latente Vorwurf, den sie für ihn bildet, zermürbt sein Selbstgefü­hl, der Anblick ihres Schmerzes, als sie erkennen muß, daß ihr Werk um ihn vergebens ist, der Kampf um seine Seele mit ihrer Niederlage endet, vergiftet sein Blut. » 80. Fortsetzun­g folgt

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