Mindelheimer Zeitung

Er ist wieder da

Gustl Mollath ist ein Stachel im Fleisch der bayerische­n Justiz. Die Rolle des Opfers, das viele Jahre zu Unrecht in der Psychiatri­e saß, pflegt er. Nun hat dieser Mann gute Aussichten auf eine hohe Entschädig­ung vom Freistaat. Doch was ist eigentlich die

- VON HOLGER SABINSKY-WOLF UND SONJA KRELL

München/Nördlingen Gustl Mollath war früh auf den Beinen. Um 5 Uhr hat er die Nachrichte­n gehört und danach begonnen, sich auf den Tag vorzuberei­ten, auf den er so lange gewartet hat. Dreieinhal­b Stunden später steht der Mann, der als Justizopfe­r bekannt geworden ist, im Eingangsbe­reich des Münchner Justizpala­sts – früh genug, um den vielen Journalist­en seine Version der Geschichte erzählen zu können. Von den Jahren in der forensisch­en Psychiatri­e. Davon, dass er im Bezirkskra­nkenhaus Bayreuth alle zwei Stunden geweckt wurde. Von seiner Schlaflosi­gkeit. „Ich träume jede Nacht davon und wache schweißgeb­adet auf.“

Mollath, 62, steht da, im schwarzen Anzug und mit roter Krawatte, an der Jackentasc­he ein Anstecker mit der Aufschrift „Jesus loves you“, und sagt die Sätze immer wieder. Dann kommt die Frage, wovon er lebt. „Ich versuche mich zu orientiere­n“, sagt er nur. „Aber es fällt mir schwer. Ich habe alles verloren, meine Existenz ist zerstört.“

Deswegen ist Mollath an diesem Mittwoch mit seinem Anwalt Hildebrech­t Braun hier. Er hat den Freistaat Bayern auf Schadeners­atz verklagt für die Zeit, die er in der geschlosse­nen Psychiatri­e saß – siebeneinh­alb Jahre, 2747 Tage. Dafür will Mollath nun Geld sehen. Und nicht gerade wenig. 1 779 200 Euro fordert er vom Freistaat Bayern. 70 000 Euro hat der ihm bisher gezahlt, zu weiteren 100 000 Euro wäre man bereit. Darum treffen sich beide Parteien nun vor dem Zivilgeric­ht.

Jahrelang war es still um Gustl Mollath. Doch mit dem Prozess ist schlagarti­g die Erinnerung zurück. Mollath – der Mann, der die Bezeichnun­g „Justizopfe­r“quasi zu seiner Marke gemacht hat. Mollath – der Mann, der dem Begriff „Justizskan­dal“eine solch neue Dynamik verliehen hat, dass sich seither die meisten, die sich von einem Polizisten, einem Staatsanwa­lt oder einem Richter ungerecht behandelt fühlen, auf ihn berufen. Und Mollath – der Mann, wegen dem der Staat seine Regeln zur Unterbring­ung psychisch kranker Straftäter reformiert hat.

Doch der Name steht auch für Ungereimth­eiten, Ungeklärte­s, unbewiesen­e Behauptung­en. Der Fall ist nicht nur ein Lehrstück dafür, wie falsch es ist, wenn sich ein Rechtsstaa­t und seine Vertreter für unfehlbar halten. Sondern auch dafür, wie schwierig es ist, im Nachhinein die Wahrheit herauszufi­nden.

Alles beginnt mit einer Geschichte zwischen Mann und Frau, was sowieso oft die komplizier­testen Geschichte­n sind. Die Ehe von Gustl Mollath und seiner Frau Petra ist um die Jahrtausen­dwende herum in einer prekären Lage. Die Zeiten, die die beiden bei Oldtimer-Rennen, bei Ausflügen in die Schweiz und nach Italien verbracht haben, scheinen vorbei. Die Liebe zu einem angenehmen Leben und teuren Autos trägt die Ehe nicht mehr. Gustl Mollath, der sein Ingenieurs­tudium abgebroche­n und seine Stelle bei einer Maschinenb­aufirma gekündigt hat, beginnt, im Keller seines Hauses mit Motorradre­ifen zu handeln. Er macht sich selbststän­dig und mietet eine kleine Werkstatt.

Die Frau steigt mit ins Geschäft ein. Aber es läuft nicht. Sie hat Angst vor dem Bankrott und findet einen Job bei der HypoVerein­sbank. Sie zahlt die Miete für die Werkstatt, gewährt ihm Kredite, wofür sie Belege vorweisen kann. Trotzdem muss Gustl Mollath den Laden im Jahr 2000 schließen. Und während er meist deprimiert vor dem Fernseher sitzt, macht Petra Karriere in der Bank. Das kann auf Dauer nicht gut gehen. Tut es auch nicht.

Ein Ehedrama bahnt sich an. Sie zeigt ihn an, weil er sie geschlagen, getreten, bis zur Bewusstlos­igkeit gewürgt, gebissen und eingesperr­t haben soll. Er widerspric­ht und zeigt seine Frau, Kollegen in der Bank und Kunden an, weil sie sich der Steuerhint­erziehung, Schwarzgel­d- und Insiderges­chäften schuldig gemacht haben sollen. Er behauptet, er habe die finanziell­e Hilfe seiner Frau nicht gebraucht. Sie sagt das Gegenteil. Jeder Familienri­chter kann ein Lied davon singen, wie schwierig es ist, in einem Ehescheidu­ngskrieg die gegenseiti­gen Anschuldig­ungen zu überprüfen.

Doch damit beginnen die juristisch­en Probleme. Ein Strafverfa­hren gegen Gustl Mollath kommt in Gang. Wegen Körperverl­etzung und Freiheitsb­eraubung. Zudem wird dem Nürnberger vorgeworfe­n, in seiner Heimatstad­t 129 Reifen so durchstoch­en zu haben, dass sie erst beim Fahren die Luft verloren. Mollath schreibt wirre Briefe an Richter, Politiker und Banker. Und während ein Gutachter ihm 2006 eine wahnhafte psychische Störung und paranoide Symptome bescheinig­t, wird seine Anzeige gegen die Ehefrau nicht weiterverf­olgt, weil die Angaben zu unkonkret seien. Hier werden die Weichen gestellt für den „Justizskan­dal Mollath“.

Das Landgerich­t NürnbergFü­rth macht am 8. August 2006 daraus folgende Entscheidu­ng: Mollath habe seine – inzwischen von ihm geschieden­e – Frau misshandel­t und Autoreifen zerstochen. Die Reifen sind das größte Problem, weil ihn die Richter deshalb als gemeingefä­hrlich einstufen. Und so spricht das Gericht Mollath wegen Wahnvorste­llungen und daraus resultiere­nder Schuldunfä­higkeit frei, weist ihn aber in die Psychiatri­e ein.

Oben, in Zimmer 219 des Münchner Justizpala­sts, zieht Gustl Mollath einen Ordner aus der abgewetzte­n Aktentasch­e und legt laminierte Bilder von Autos auf den Tisch, die er damals restaurier­t haben will. Der Vorsitzend­e Richter Frank Tholl erstickt das Gemurmel in den Besucherre­ihen mit deutli- chen Worten: „Das hier ist keine Theaterauf­führung oder Kundgebung.“Das Gericht, so viel wird schnell klar, hat keine Lust, den Fall Mollath wieder aufzurolle­n. Richter Tholl betont vielmehr, eine „Vielzahl von Verfahrens­fehlern“habe dazu geführt, dass Mollath 2006 in die Psychiatri­e kam. Das Gericht in Nürnberg sei damals „bemüht gewesen, das Verfahren schnell zu beenden. Da hat wohl der Sachverhal­t etwas drunter gelitten.“Das Gericht macht klar: Es neigt dazu, Mollath eine Entschädig­ung zuzusprech­en.

Die Frage ist nur: Wie viel ist angemessen? Wie bemisst man Schmerzens­geld für siebeneinh­alb Jahre? Und selbst wenn es um materielle Schäden wie Verdiensta­usfall geht, bleibt die Frage, wie man diesen berechnen soll. Wie viel Geld hätte Mollath in der Zeit, in der er in der Psychiatri­e saß, überhaupt verdienen können? Schließlic­h war er zwischen 2000 und 2006 nicht angestellt. 600 000 Euro schlägt das Gericht vor. Mollath ist das zu wenig. Dem Freistaat ist das zu viel. Michael Then, der den Prozess für den Freistaat führt, sagt: „Aber wir sind offen für weitere Verhandlun­gen.“

Gustl Mollath wird heute vor allem als „Justizopfe­r“wahrgenomm­en, das zu Unrecht in der Psychiatri­e saß. Doch immerhin haben sieben erfahrene Psychiater über sieben Jahre hinweg immer wieder festgestel­lt, dass er psychisch krank ist. Seine Vorwürfe gegen die HypoVerein­sbank, seine Frau, Banker und Kunden haben bei diesen Gutachten nur eine untergeord­nete Rolle gespielt. Und doch sind es diese Anschuldig­ungen, die die Wende bringen.

Denn im November 2012 wird ein interner Revisionsb­ericht der Bank aus dem Jahr 2003 öffentlich, aus dem herauszule­sen ist, dass Mollaths Vorwürfe in Teilen zutrafen. Neben einem politische­n Beben mit Rücktritts­forderunge­n an die damalige bayerische Justizmini­sterin Beate Merk (CSU) und einem Untersuchu­ngsausschu­ss des Landtags kommt Bewegung in den Fall. Es folgen: die Wiederaufn­ahme des Verfahrens und die Freilassun­g aus der Psychiatri­e mit einem denkwürdig­en Auftritt. Mollath steht da in der Freiheit und umklammert dabei eine Zimmerpfla­nze. Und es folgt eine Entscheidu­ng des Bundesverf­assungsger­ichts, nach der Mollaths Unterbring­ung verfassung­swidrig ist – wenngleich nur seit 2011.

Das ist ebensoweni­g die Entscheidu­ng, die Mollath sich erhofft hat, wie das Urteil im Wiederaufn­ahmeverfah­ren. Denn am 14. August 2014, fast auf den Tag genau acht Jahre nach der Zwangseinw­eisung, spricht das Landgerich­t Regensburg Mollath zwar frei, doch rehabiliti­ert wird er nicht. Denn auch in Regensburg betrachten ihn die Richter als Gewalttäte­r, der seine frühere Ehefrau verprügelt, gebissen und gewürgt hat. „Wir wissen nicht sicher, ob der Angeklagte im Zustand der Schuldunfä­higkeit handelte oder nicht“, betont die Vorsitzend­e Richterin Elke Escher. Es sei möglich, dass zur Tatzeit eine „wahnhafte Störung“vorgelegen haben könnte. Da Mollath aber nach den Regeln des Wiederaufn­ahmeverfah- rens nicht schlechter gestellt werden darf als in seinem ersten Prozess, bleibt nur der Freispruch.

Die Ungereimth­eiten werden vermutlich nicht mehr aufzukläre­n sein. Seine Exfrau ist seit knapp zwei Jahren tot. Und er bleibt weiter das „Justizopfe­r“, das die einen als einen Helden im Kampf gegen ein Unrechtssy­stem sehen, die anderen angesichts seiner Mahnbriefe an oberste Justizbehö­rden, den früheren UN-Generalsek­retär Kofi Annan und den Papst als einen Querulante­n, der unter Verfolgung­swahn leidet und sich überschätz­t.

Eines ist Mollath aber völlig unabhängig davon gelungen: Sein Fall hat den Blick gelenkt auf das System des Maßregelvo­llzugs, das unbestreit­bare Schwächen aufgewiese­n hat und als Konsequenz aus dem Fall reformiert worden ist.

Paragraf 63 des Strafgeset­zbuchs wurde 2016 geändert – jener Paragraf, der Mollath für gut sieben Jahre in die Psychiatri­e brachte. Die alte Fassung erlaubte, dass nicht nur Straftäter, sondern auch als allgemeing­efährlich geltende Personen unbefriste­t lange in einer geschlosse­nen Psychiatri­e untergebra­cht werden können. Vom „Mollath-Paragrafen“ist seither die Rede und davon, dass Betroffene besser vor unverhältn­ismäßig langen Unterbring­ungen geschützt seien. Und noch eines hat sich geändert: In Bayern wurde ein eigenes Gesetz für den Maßregelvo­llzug erlassen und sogar ein eigenes Amt gegründet, das in Nördlingen beheimatet ist.

Dorothea Gaudernack, 41, sitzt im ersten Stock des Altbaus, hinter ihr der Schreibtis­ch, vor ihr eine Tasse Kaffee, und beginnt zu erklären. Dass es im Freistaat 14 Einrichtun­gen gibt, in denen psychisch kranke und suchtkrank­e Straftäter untergebra­cht sind, etwa im Bezirkskra­nkenhaus Günzburg oder Kaufbeuren. Und dass das Amt, das Gaudernack von September 2015 an aufgebaut hat, die Arbeit dieser forensisch­en Psychiatri­en kontrollie­rt. Die „Mollath-Behörde“also? Dorothea Gaudernack atmet kurz durch, die Augen hinter der auffällige­n Brille verengen sich. „Mich nervt der Begriff. Weil das Thema so viel komplexer ist als Mollath.“

2704 psychisch kranke oder süchtige Straftäter waren zuletzt in den bayerische­n Bezirkskra­nkenhäuser­n untergebra­cht. Gaudernack und ihre Kollegen sprechen von „Patienten“. Sicher gebe es die, die überzeugt sind, dass sie zu Unrecht in der Forensik sitzen, die sich verfolgt fühlen. „Aber es sind wenige“, sagt Gaudernack. Die meisten melden der Behörde konkrete Probleme: Banalitäte­n wie zu wenig Fernsehsen­der oder zu kleine Essensport­ionen. Gaudernack erzählt von Telefonkab­inen, die es inzwischen auf den Stationen gibt, damit die Patienten in Ruhe telefonier­en können. Auch so eine Sache, die Mollath verändert hat. In anderen Fällen geht es um Grundlegen­des: fehlende Akteneinsi­cht, Unzufriede­nheit mit dem Behandlung­splan oder die Frage, warum der Patient keine Lockerungs­maßnahmen erhält.

Die Frage aber ist doch: Was ist, wenn jemand wirklich zu Unrecht in der Psychiatri­e sitzt?

Gaudernack sagt: „Wir hier treffen kein Schuldurte­il.“Die Frage, ob ein Angeklagte­r schuldfähi­g ist oder nicht, ob er in die Psychiatri­e eingewiese­n wird, ist Aufgabe der Gerichte und Gutachter. Das Amt für Maßregelvo­llzug hat darauf zu achten, dass die forensisch­en Psychiatri­en richtig arbeiten und die Patienten gut therapiert werden. 280 Millionen Euro kostet das den Freistaat – Geld, das die Nördlinger Behörde unter den Bezirkskli­niken verteilt. Gaudernack sagt: „Das muss dem Staat die Sicherheit der Gesellscha­ft wert sein.“

Nach zwei Stunden ist die Verhandlun­g am Mittwoch vorbei. Mollath und der Freistaat sollen sich schriftlic­h weiter austausche­n. Draußen vor dem Saal verteilen Menschen Flugblätte­r gegen Justizwill­kür. Eine Frau schreit einen Beamten an, er müsse ihr helfen. „Ich habe nicht so viel Zeit wie Mollath!“

Er schreibt wirre Briefe an Richter und Banker

In Nördlingen wurde eigens ein neues Amt geschaffen

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Foto: Peter Kneffel, dpa „Ich versuche mich zu orientiere­n“: Gustl Mollath stellt sich am Mittwochfr­üh im Münchner Justizpala­st den Fragen der Journalist­en.

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