Das Kinder-Drama von Würzburg
Ein 37-jähriger Therapeut war beliebt und wurde vielfach ausgezeichnet. Er betreute hunderte Jungen und Mädchen. Ausgerechnet er steht nun im Verdacht, Buben sexuell missbraucht zu haben. Die Menschen vor Ort sind fassungslos
An der Tür zur Praxis für Logopädie klebt ein Schild. „Vorübergehend geschlossen“, steht da. In diesem Würzburger Mietshaus hat er also viele seiner kleinen Patienten behandelt – der Mann, über den nun die ganze Stadt spricht. Der gerade in seiner auf behinderte Kinder ausgerichteten Arbeit als angesehener Experte galt, sogar vielfach ausgezeichnet wurde. Auch deshalb ist das Entsetzen jetzt so groß. Klar, dass es in dem Mietshaus kein anderes Thema mehr gibt, seit am Mittwochabend die Polizei in die Praxisräume eindrang und Beweismaterial sicherte. Von der Durchsuchung in der Nacht habe nur eine Bewohnerin etwas bemerkt, heißt es. Ein Mann erzählt, er und die anderen Bewohner hätten sich erst am nächsten Tag über die Polizeibeamten im Treppenhaus und die Journalisten vor dem Haus gewundert. Niemand habe dem Chef der Praxis auch nur annähernd zugetraut, was jetzt im Raum steht. Lange habe man geglaubt, dass das alles nur ein Missverständnis sein kann. Ein Missverständnis? Der 37-jährige Logopäde soll pornografische Bilder und Videos mit kleinen Buben im Darknet verbreitet haben, einem abgeschirmten Seinen zwei Pflegekindern soll es gut gehen Bereich des Internets. Und noch schlimmer: Es steht der Verdacht des schweren sexuellen Missbrauchs im Raum. Gegen einen Mann, der in vielen verschiedenen Einrichtungen mit Kindern zu tun hatte. Dem unzählige Eltern ihre Kleinen anvertraut haben. In der Nacht auf Donnerstag verhaftete die Polizei zunächst zwei Männer. Später ließ sie einen der beiden, der in leitender Funktion in einer Kindertagesstätte tätig ist, wieder frei, weil sich der Tatverdacht nicht erhärtet habe. Trotzdem wird gegen ihn weiterermittelt. Sein Lebenspartner, der Logopäde, wurde dagegen dem Haftrichter vorgeführt und sitzt in Bamberg in Untersuchungshaft. In der oberfränkischen Stadt hat die Zentralstelle Cybercrime Bayern ihren Sitz, eine Behörde, die bei der dortigen Generalstaatsanwaltschaft angesiedelt ist. Nun gibt es Fragen über Fragen. Geprüft wird vor allem, ob der Inhaftierte selbst Kinder missbraucht hat. Dafür hat die Würzburger Kripo eine Sonderkommission gegründet. Noch ist das gesamte Material nicht gesichtet. Aber fest steht: Die bislang über 100 Bilder und Filme zeigen nach Angaben der Ermittler Jungen im Kindergartenalter, und nicht nur in anzüglichen Posen. Hier geht es um schweren Missbrauch. Die Ermittler erwartet viel Arbeit. Wer sind die Buben? Wo wurden die Aufnahmen gemacht? Der Angeklagte schweigt bislang, sagt die Staatsanwaltschaft. Die Verteidiger der beiden Männer wollen sich erst einen Überblick über die Beweislage verschaffen, sie äußern sich auf Anfrage zunächst nicht. Gegen die Kita, den evangelischen Träger oder das Team der Einrichtung werde nicht ermittelt, sagt Dekanin Edda Weise. „Deswegen bleibt die Kita geöffnet.“Unklar ist, ob Kinder von dort betroffen sind. Der Angestellte, der zunächst verhaftet und später wieder freigelassen wurde, „ist bis auf Weiteres vom Dienst freigestellt“. Dem vierjährigen Jungen und dem fünfjährigen Mädchen, die als Pflegekinder bei dem verhafteten Mann und seinem Lebenspartner in Obhut waren, soll es den Umständen entsprechend gut gehen. „Es haben sich keinerlei körperliche oder seelische Hinweise auf Missbrauch ergeben“, sagt ein Sprecher der Stadt. Viele der jungen Familien in dem Mietshaus, in dem der Logopäde seine Hauptpraxis betreibt, haben selbst Kinder. Umso tiefer sitzt der Schock. Es sei ein Gefühlschaos zwischen Wut und Trauer, sagt ein Bewohner. Ihm sei nur aufgefallen, erzählt er, dass der Mann oft spät am Abend noch einmal in seine Praxis kam. Erst kürzlich habe er Räume im Hinterhof dazugemietet, deren Fenster verspiegelt wurden. Dies könne aber auch zum Schutz der dort behandelten Patienten vor neugierigen Blicken gemacht worden sein, ergänzt eine Mutter, die mit ihrem Sohn hier in Behandlung war. „Das kann nicht wahr sein“, sagt eine andere, „ich hoffe immer noch, dass das nur ein böser Traum ist, aus dem ich bald erwache.“Sie sagt, sie habe ihren behinderten Sohn auch mal allein mit dem Logopäden gelassen, um die Therapiestunde für Besorgungen zu nutzen. „Als Mutter eines chronisch kranken und behinderten Kindes muss ich doch den Pflegekräften und Therapeuten absolut vertrauen können“, sagt sie. Da ihr Sohn bis zuletzt immer freudestrahlend zur Therapie gegangen sei, die beiden immer viel gelacht hätten, gehe sie davon aus, dass in der Praxis nichts passiert sei. Das hoffen auch andere Eltern. Schließlich gebe es mehrere Therapeuten dort, die auch mal kurz ins Behandlungszimmer gekommen seien, um etwas zu holen oder abzusprechen. Der beschuldigte Logopäde hat zwei Praxen in Würzburg. Dort bietet er Therapien für Kinder und Erwachsene an. Beide Praxen sind nun geschlossen. Auch telefonisch ist kein Mitarbeiter zu erreichen. In seiner Freizeit gab der Mann Kindern im Sportverein DJK Turnstunden. „Wir stehen unter Schock“, sagt Sonja Buchberger. Der Vereinsvorsitzenden sitzt die Nachricht, dass ein bei Kindern und Eltern gleichermaßen beliebter Übungsleiter in Untersuchungshaft sitzt, auch am Tag danach noch in den Knochen. Am Donnerstag durchsuchen Staatsanwaltschaft und Polizei die Geschäftsstelle des 1800 Mitglieder starken Klubs im Stadtteil Zellerau. Die DJK-Verantwortlichen betonen, es sei noch unklar, ob Kinder, die an den Turnstunden teilnahmen, unter den Opfern sind. Alle Eltern wurden in einem ersten Schritt per Mail informiert, kommende Woche soll es weitere Informationen geben. Der Verein hat inzwischen die Übungsstunden, die der Mann jeden Donnerstag und Freitag angeboten hat, aus dem Programm genommen. Es handelt sich um zwei Kurse „Integratives Kinderturnen“für Mädchen und Jungen im Alter von drei bis fünf Jahren sowie um vier „Kurse für präventive Psychomotorik“für Kinder von drei bis sieben Jahren. Insgesamt besuchten zuletzt mehr als 80 Mädchen und Jungen die Übungsstunden des Verdächtigen. Der 37-Jährige bot die Kurse seit Herbst 2008 an, er hatte also über Jahre hinweg Kontakt zu mehreren hundert Kindern im Verein. Die DJK bestätigt, dass es lange Wartelisten für die Turnstunden gab. An den Übungen nahmen auch Kinder mit körperlicher Beeinträchtigung, geistiger Behinderung und Verhaltensauffälligkeiten teil. Der Logopäde hatte ein „erweitertes Führungszeugnis“vorgelegt, das seine Unbescholtenheit belegen sollte. Einen Eintrag gab es dort nicht. Der Bayerische Landessportverband empfiehlt Vereinen, sich von Personen, die Kinder und Jugendliche trainieren und betreuen, solch ein Zeugnis zeigen zu lassen. Im Unterschied zum „polizeilichen Führungszeugnis“enthält ein „erweitertes Führungszeugnis“auch „geringfügige Verurteilungen, Verurteilungen, die wegen Fristablauf nicht mehr im ,normalen‘ Führungszeugnis aufgeführt sind, und verurteilte Sexualstraftaten“. Die Polizei stellt fest, dass Missbrauchsopfer in Deutschland immer jünger werden. „Wir reden da nicht nur von Kindergartenkindern, sondern von noch jüngeren Kleinkindern“, Ein Experte sagt: Es wird noch mehr Verfahren geben sagt Marie Müller, Sprecherin des Bundeskriminalamts (BKA), auf Anfrage unserer Redaktion. Die jüngste vorliegende Kriminalstatistik aus dem Jahr 2017 weist 1612 Fälle von vollendetem oder versuchtem Missbrauch an Opfern unter sechs Jahren aus. In den meisten kamen die Täter Müller zufolge „aus dem familiären Umkreis“. Aber es gibt eben auch – wie mutmaßlich in Würzburg – zunehmend Fälle, bei denen die Täter Erzieher oder Betreuer waren. „Die Mehrzahl sind Beziehungsdelikte, denn die Täter müssen zunächst langfristig das Vertrauen der kindlichen Opfer erschleichen. Dabei gehen sie äußerst vorsichtig vor, um ihren Missbrauch zu verdecken“, sagt die BKA-Sprecherin. Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, befürchtet, dass es „durch die Möglichkeiten des Internets“zu einem weiteren „erheblichen Anstieg von Verfahren“kommen wird. Er plädiert dafür, dass beispielsweise in jedem Kindergarten das Vier-Augen-Prinzip gerade in Schlaf- und Sanitärbereichen gilt, sagt er unserer Redaktion. Konkret bedeutet das: Ein Erzieher sollte möglichst nie mit einem Kind allein sein, wenn er es wickelt oder ihm beim Toilettengang hilft. Sei dieses Prinzip aufgrund von Personalmangel nicht umsetzbar, sollte wenigstens die Raumtür offen oder das Zimmer durch ein Fenster in der Tür einsehbar sein. Rörig bemängelt: „In den rund 55000 Kitas in Deutschland gibt es leider längst nicht überall solche Schutzkonzepte.“