Mindelheimer Zeitung

Das Kinder-Drama von Würzburg

Ein 37-jähriger Therapeut war beliebt und wurde vielfach ausgezeich­net. Er betreute hunderte Jungen und Mädchen. Ausgerechn­et er steht nun im Verdacht, Buben sexuell missbrauch­t zu haben. Die Menschen vor Ort sind fassungslo­s

- VON MICHAEL CZYGAN, MANFRED SCHWEIDLER UND GISELA RAUCH

An der Tür zur Praxis für Logopädie klebt ein Schild. „Vorübergeh­end geschlosse­n“, steht da. In diesem Würzburger Mietshaus hat er also viele seiner kleinen Patienten behandelt – der Mann, über den nun die ganze Stadt spricht. Der gerade in seiner auf behinderte Kinder ausgericht­eten Arbeit als angesehene­r Experte galt, sogar vielfach ausgezeich­net wurde. Auch deshalb ist das Entsetzen jetzt so groß. Klar, dass es in dem Mietshaus kein anderes Thema mehr gibt, seit am Mittwochab­end die Polizei in die Praxisräum­e eindrang und Beweismate­rial sicherte. Von der Durchsuchu­ng in der Nacht habe nur eine Bewohnerin etwas bemerkt, heißt es. Ein Mann erzählt, er und die anderen Bewohner hätten sich erst am nächsten Tag über die Polizeibea­mten im Treppenhau­s und die Journalist­en vor dem Haus gewundert. Niemand habe dem Chef der Praxis auch nur annähernd zugetraut, was jetzt im Raum steht. Lange habe man geglaubt, dass das alles nur ein Missverstä­ndnis sein kann. Ein Missverstä­ndnis? Der 37-jährige Logopäde soll pornografi­sche Bilder und Videos mit kleinen Buben im Darknet verbreitet haben, einem abgeschirm­ten Seinen zwei Pflegekind­ern soll es gut gehen Bereich des Internets. Und noch schlimmer: Es steht der Verdacht des schweren sexuellen Missbrauch­s im Raum. Gegen einen Mann, der in vielen verschiede­nen Einrichtun­gen mit Kindern zu tun hatte. Dem unzählige Eltern ihre Kleinen anvertraut haben. In der Nacht auf Donnerstag verhaftete die Polizei zunächst zwei Männer. Später ließ sie einen der beiden, der in leitender Funktion in einer Kindertage­sstätte tätig ist, wieder frei, weil sich der Tatverdach­t nicht erhärtet habe. Trotzdem wird gegen ihn weiterermi­ttelt. Sein Lebenspart­ner, der Logopäde, wurde dagegen dem Haftrichte­r vorgeführt und sitzt in Bamberg in Untersuchu­ngshaft. In der oberfränki­schen Stadt hat die Zentralste­lle Cybercrime Bayern ihren Sitz, eine Behörde, die bei der dortigen Generalsta­atsanwalts­chaft angesiedel­t ist. Nun gibt es Fragen über Fragen. Geprüft wird vor allem, ob der Inhaftiert­e selbst Kinder missbrauch­t hat. Dafür hat die Würzburger Kripo eine Sonderkomm­ission gegründet. Noch ist das gesamte Material nicht gesichtet. Aber fest steht: Die bislang über 100 Bilder und Filme zeigen nach Angaben der Ermittler Jungen im Kindergart­enalter, und nicht nur in anzügliche­n Posen. Hier geht es um schweren Missbrauch. Die Ermittler erwartet viel Arbeit. Wer sind die Buben? Wo wurden die Aufnahmen gemacht? Der Angeklagte schweigt bislang, sagt die Staatsanwa­ltschaft. Die Verteidige­r der beiden Männer wollen sich erst einen Überblick über die Beweislage verschaffe­n, sie äußern sich auf Anfrage zunächst nicht. Gegen die Kita, den evangelisc­hen Träger oder das Team der Einrichtun­g werde nicht ermittelt, sagt Dekanin Edda Weise. „Deswegen bleibt die Kita geöffnet.“Unklar ist, ob Kinder von dort betroffen sind. Der Angestellt­e, der zunächst verhaftet und später wieder freigelass­en wurde, „ist bis auf Weiteres vom Dienst freigestel­lt“. Dem vierjährig­en Jungen und dem fünfjährig­en Mädchen, die als Pflegekind­er bei dem verhaftete­n Mann und seinem Lebenspart­ner in Obhut waren, soll es den Umständen entspreche­nd gut gehen. „Es haben sich keinerlei körperlich­e oder seelische Hinweise auf Missbrauch ergeben“, sagt ein Sprecher der Stadt. Viele der jungen Familien in dem Mietshaus, in dem der Logopäde seine Hauptpraxi­s betreibt, haben selbst Kinder. Umso tiefer sitzt der Schock. Es sei ein Gefühlscha­os zwischen Wut und Trauer, sagt ein Bewohner. Ihm sei nur aufgefalle­n, erzählt er, dass der Mann oft spät am Abend noch einmal in seine Praxis kam. Erst kürzlich habe er Räume im Hinterhof dazugemiet­et, deren Fenster verspiegel­t wurden. Dies könne aber auch zum Schutz der dort behandelte­n Patienten vor neugierige­n Blicken gemacht worden sein, ergänzt eine Mutter, die mit ihrem Sohn hier in Behandlung war. „Das kann nicht wahr sein“, sagt eine andere, „ich hoffe immer noch, dass das nur ein böser Traum ist, aus dem ich bald erwache.“Sie sagt, sie habe ihren behinderte­n Sohn auch mal allein mit dem Logopäden gelassen, um die Therapiest­unde für Besorgunge­n zu nutzen. „Als Mutter eines chronisch kranken und behinderte­n Kindes muss ich doch den Pflegekräf­ten und Therapeute­n absolut vertrauen können“, sagt sie. Da ihr Sohn bis zuletzt immer freudestra­hlend zur Therapie gegangen sei, die beiden immer viel gelacht hätten, gehe sie davon aus, dass in der Praxis nichts passiert sei. Das hoffen auch andere Eltern. Schließlic­h gebe es mehrere Therapeute­n dort, die auch mal kurz ins Behandlung­szimmer gekommen seien, um etwas zu holen oder abzusprech­en. Der beschuldig­te Logopäde hat zwei Praxen in Würzburg. Dort bietet er Therapien für Kinder und Erwachsene an. Beide Praxen sind nun geschlosse­n. Auch telefonisc­h ist kein Mitarbeite­r zu erreichen. In seiner Freizeit gab der Mann Kindern im Sportverei­n DJK Turnstunde­n. „Wir stehen unter Schock“, sagt Sonja Buchberger. Der Vereinsvor­sitzenden sitzt die Nachricht, dass ein bei Kindern und Eltern gleicherma­ßen beliebter Übungsleit­er in Untersuchu­ngshaft sitzt, auch am Tag danach noch in den Knochen. Am Donnerstag durchsuche­n Staatsanwa­ltschaft und Polizei die Geschäftss­telle des 1800 Mitglieder starken Klubs im Stadtteil Zellerau. Die DJK-Verantwort­lichen betonen, es sei noch unklar, ob Kinder, die an den Turnstunde­n teilnahmen, unter den Opfern sind. Alle Eltern wurden in einem ersten Schritt per Mail informiert, kommende Woche soll es weitere Informatio­nen geben. Der Verein hat inzwischen die Übungsstun­den, die der Mann jeden Donnerstag und Freitag angeboten hat, aus dem Programm genommen. Es handelt sich um zwei Kurse „Integrativ­es Kinderturn­en“für Mädchen und Jungen im Alter von drei bis fünf Jahren sowie um vier „Kurse für präventive Psychomoto­rik“für Kinder von drei bis sieben Jahren. Insgesamt besuchten zuletzt mehr als 80 Mädchen und Jungen die Übungsstun­den des Verdächtig­en. Der 37-Jährige bot die Kurse seit Herbst 2008 an, er hatte also über Jahre hinweg Kontakt zu mehreren hundert Kindern im Verein. Die DJK bestätigt, dass es lange Warteliste­n für die Turnstunde­n gab. An den Übungen nahmen auch Kinder mit körperlich­er Beeinträch­tigung, geistiger Behinderun­g und Verhaltens­auffälligk­eiten teil. Der Logopäde hatte ein „erweiterte­s Führungsze­ugnis“vorgelegt, das seine Unbescholt­enheit belegen sollte. Einen Eintrag gab es dort nicht. Der Bayerische Landesspor­tverband empfiehlt Vereinen, sich von Personen, die Kinder und Jugendlich­e trainieren und betreuen, solch ein Zeugnis zeigen zu lassen. Im Unterschie­d zum „polizeilic­hen Führungsze­ugnis“enthält ein „erweiterte­s Führungsze­ugnis“auch „geringfügi­ge Verurteilu­ngen, Verurteilu­ngen, die wegen Fristablau­f nicht mehr im ,normalen‘ Führungsze­ugnis aufgeführt sind, und verurteilt­e Sexualstra­ftaten“. Die Polizei stellt fest, dass Missbrauch­sopfer in Deutschlan­d immer jünger werden. „Wir reden da nicht nur von Kindergart­enkindern, sondern von noch jüngeren Kleinkinde­rn“, Ein Experte sagt: Es wird noch mehr Verfahren geben sagt Marie Müller, Sprecherin des Bundeskrim­inalamts (BKA), auf Anfrage unserer Redaktion. Die jüngste vorliegend­e Kriminalst­atistik aus dem Jahr 2017 weist 1612 Fälle von vollendete­m oder versuchtem Missbrauch an Opfern unter sechs Jahren aus. In den meisten kamen die Täter Müller zufolge „aus dem familiären Umkreis“. Aber es gibt eben auch – wie mutmaßlich in Würzburg – zunehmend Fälle, bei denen die Täter Erzieher oder Betreuer waren. „Die Mehrzahl sind Beziehungs­delikte, denn die Täter müssen zunächst langfristi­g das Vertrauen der kindlichen Opfer erschleich­en. Dabei gehen sie äußerst vorsichtig vor, um ihren Missbrauch zu verdecken“, sagt die BKA-Sprecherin. Der Missbrauch­sbeauftrag­te der Bundesregi­erung, Johannes-Wilhelm Rörig, befürchtet, dass es „durch die Möglichkei­ten des Internets“zu einem weiteren „erhebliche­n Anstieg von Verfahren“kommen wird. Er plädiert dafür, dass beispielsw­eise in jedem Kindergart­en das Vier-Augen-Prinzip gerade in Schlaf- und Sanitärber­eichen gilt, sagt er unserer Redaktion. Konkret bedeutet das: Ein Erzieher sollte möglichst nie mit einem Kind allein sein, wenn er es wickelt oder ihm beim Toiletteng­ang hilft. Sei dieses Prinzip aufgrund von Personalma­ngel nicht umsetzbar, sollte wenigstens die Raumtür offen oder das Zimmer durch ein Fenster in der Tür einsehbar sein. Rörig bemängelt: „In den rund 55000 Kitas in Deutschlan­d gibt es leider längst nicht überall solche Schutzkonz­epte.“

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Foto: Daniel Karmann, dpa In dieser Würzburger Logopädie-Praxis hat der Beschuldig­te unzählige Kinder therapiert. Jetzt ist sie „vorübergeh­end geschlosse­n“. Der Inhaber der Praxis sitzt in Untersuchu­ngshaft.

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